JIMMIE DURHAM

Jimmie Durham (*1940 in Washington, Arkansas) war in den 1960er-Jahren in der texanischen Theater-, Literatur- und Performanceszene sowie in der Bürgerrechtsbewegung aktiv, in den 1970er-Jahren engagierte er sich politisch als Mitbegründer und Direktor des International Indian Treaty Council und Vertreter des American Indian Movement bei den Vereinten Nationen. 1968–1973 studierte er Kunst an der École des Beaux-Arts in Genf. Seit seiner ersten Einzelausstellung im Jahr 1965 wurde das Werk Durhams vielfach gezeigt, zuletzt in einer umfassenden Retrospektive am M HKA in Antwerpen (2012). Durham war bei der Biennale Venedig (1999, 2001, 2003, 2005) sowie bei der documenta IX (1992) vertreten und ist Teilnehmer der dOCUMENTA (13) (2012). Seine Essays sind in verschiedenen Zeitschriften wie Artforum oder Art Journal, in Büchern und Ausstellungskatalogen veröffentlicht. Der Künstler lebt – nach wechselnden Stationen in den USA, Europa und Mexiko – in Berlin und Rom.

»Humanity is not a completed project«

»I want to think about art. I want art to be a part of humanity's thinking process, not humanity's 'feeling' process. We already have enough emotions, enough feelings, but we don't have enough thoughts.« ⸺ Jimmie Durham

Auf der documenta IX in Kassel, zu dem der damalige künstlerische Leiter Jan Hoet den Nachkommen nordamerikanischer Cherokee-Indianer Jimmie Durham eingeladen hatte, präsentierte der Künstler eine eher unscheinbare Skulptur: einen gespaltenen Sandsteinblock, dessen eine Hälfte die Beschriftung »This Stone is from the Mountain«, die andere »This Stone is from the Red Palace« trug. Ein ironischer Kommentar auf das ehrfürchtige Betrachten, ja Erschauern des Kunstpublikums im Angesicht von Kunst.

Das Material Stein spielt im Werk des Künstlers, Schriftstellers und ehemaligen politischen Aktivisten Durham eine zentrale Rolle. Seit seiner endgültigen Übersiedlung nach Europa 1994 nimmt dabei die Auseinandersetzung mit Natur und Kultur, mit Religion, Architektur und (europäischer) Geschichte breiten Raum ein. Durham zeigt etwa auf, »wie Staaten sich durch ihren Gebrauch von Architektur und Monumentalität definieren« – so Eva Scharrer, Agentin der dOCUMENTA (13), im Begleitbuch zur Schau – und verwendet daher das in der Architektur bevorzugte Material Stein, um es von seinen metaphorischen Assoziationen mit Großartigkeit und Beständigkeit zu befreien. 

Bei der Aktion Stoning the Refrigerator aus dem Jahr 1996 beispielsweise dienten dem Künstler Steine als Werkzeug: Über Tage bewarf Durham einen Kühlschrank als Symbol der kapitalistischen Konsumgesellschaft mit Pflastersteinen, bis aus ihm das »Gegenteil einer Skulptur« entstanden war, die er St. Frigo nannte. »Ich brauchte neun oder zehn Tage. Jeden Morgen warf ich Steine auf den Kühlschrank. Das war, als ginge ich ganz normal zur Arbeit. Man geht in der Früh aus dem Haus und wirft Pflastersteine auf den Kühlschrank, bis man seine Form verändert [...] Statt mit Werkzeug aus dem Stein eine Skulptur zu hauen, wollte ich den Stein selbst als Werkzeug benutzen und nicht eine neue Form schaffen, sondern ein bereits existierendes Objekt verändern.« Für die Biennale of Sydney 2004 ließ er in Still Life with Stone and Car einen riesigen Basaltfelsen auf einem roten Ford Festiva platzieren. »Wie die meisten meiner jüngeren Werke beschäftigt sich diese Arbeit mit Monumenten und Monumentalität, aber auch mit Natur; dieses unerbittliche, harte Zeug.«

In der Ausstellung Rocks Encouraged im Portikus in Frankfurt am Main 2010 hingegen trug Durham versteinerte Baumstämme zu einer Installation zusammen und machte den eigens gedämmten und abgedunkelten Ausstellungsraum immer nur für einen Besucher zugänglich ¬– für eine konzentrierte, »meditative« Betrachtung des Naturmonuments, »ohne Geplapper, ohne Vergleiche, ohne Ablenkungen«, so der Künstler selbst.

Über Steine hinaus nutzt Durham vielfältige Materialien und ein breites Spektrum künstlerischer Ausdrucksweisen, er zeichnet, schafft – oft aus Fundstücken aus der Natur oder dem Sperrmüll – Assemblagen, Skulpturen und Installationen, oder experimentiert, angeregt durch seine Partnerin, die Fotografin Maria Teresa Alves, mit dem Medium Video, mit dem er seine Performances aufzeichnet. 

Aus Vorgefundenem zusammengesetzt, bunt bemalt oder mit Federn beklebt, sind auch die an Totems erinnernden Tierschädel und Figuren des Künstlers, die häufig vorschnell als »Indianische Kunst« interpretiert wurden, ohne die kritische Haltung Durhams bei der Darstellung indigener Kultur und dessen Suche nach einer neuen Symbolik fernab jeglicher Indianerstereotype und Hollywood-Klischees anzuerkennen. 

Oft sind Jimmie Durhams Arbeiten mit ernsten, zuweilen ironischen, augenzwinkernden Textbotschaften versehen, die seinen dezidiert gesellschaftskritischen Blick und sein nunmehr fünf Jahrzehnte währendes Engagement für das, was er »humanity’s thinking process« nennt, unterstreichen: sein »Nachdenken über unseren Platz und unsere Verantwortung in der Welt und gegenüber anderen Kulturen« (Der Spiegel). In den Worten des Künstlers: »Humanity is not a completed project«. 

Für die dOCUMENTA (13) trug Durham zwei Werke bei, neben seiner InstallationThe History of Europe pflanzte er zusammen mit der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev in der Kasseler Karlsaue zwei Apfelbäume, einen Arkansas Black Apple Tree, der ihm aus Kindertagen in Erinnerung geblieben war, sowie einen Korbiniansapfelbaum, benannt nach dem bayerischen Priester und Gärtner Korbinian Aigner, der im Konzentrationslager Dachau auf einem Rasen zwischen den Baracken vier neue Apfelsorten züchtete.

veröffentlicht am 15.8.2012 – Stefanie Gommel
Veröffentlicht am: 15.08.2012