NALINI MALANI

Nalini Malani
Nalini Malani (* 1946 in Karachi) lebt und arbeitet in Bombay. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen zählen u. a. eine große Retrospektive im Musée Cantonal des Beaux-Arts, Lausanne (2010), im Irish Museum of Modern Art, Dublin (2008) sowie im New Museum of Contemporary Art, New York (2003). Sie war in Gruppenausstellungen im Centre Pompidou, Paris (2011), im Martin-Gropius-Bau, Berlin (2009), in der Serpentine Gallery, London (2009), im National Museum of Modern Art, Tokyo (2008), auf der 16. Biennale of Sydney (2008), auf der 52. Biennale di Venezia (2007) und im Castello di Rivoli, Turin (2005) vertreten.

Meisterin der visuellen Narration

»Jetzt ist es an der Zeit sich der weiblichen Subjektivität mit großer Aufmerksamkeit zuzuwenden, wenn man so etwas wie Fortschritt erreichen will.« ⸺ Interview mit H.U. Obrist und Julia Peyton-Jones, 2008

Nalini Malani ist eine Meisterin der visuellen Narration, die ihre Geschichten mit ganz unterschiedlichen künstlerischen Medien erzählt: Neben Zeichnung, traditioneller Glasmalerei und (Wand-)Malerei erhebt sie ihre Stimme gegen religiösen Fundamentalismus und zerstörerischen Fortschrittswahn mit Videoinstallationen, skulpturalen Rauminszenierungen und Schattenspielen. Sie arbeitet seit den 60er Jahren als Künstlerin und wird häufig als Wegbereiterin der experimentellen Kunst in Indien bezeichnet, sie selbst versteht sich als politische Künstlerin und ihr Werk als engagierte, politische Zeitzeugenschaft. Ihre Arbeiten sind immer beides, spezifisch und universell, eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart und der Vergangenheit, aber auch die künstlerische Suche nach den Impulsen, die den Einzelnen in seinem Handeln antreiben: Raserei, Mord, Schuld, Unvermögen ... all die menschlichen Unzulänglichkeiten. In Splitting the Other (2007) hat sie hierfür ein Bild geschaffen: Die Figur der Frau, der Erdmutter mit der Nabelschnur, an deren Enden unschuldige Neugeborene genauso hängen wie Monster. Es ist aber nicht das Entweder-Oder sondern das Sowohl-Als-Auch.

Mit Unity in Diversity (2003) reagiert Malani unmittelbar auf die Pogrome, Massenvergewaltigungen und den Terror gegen die Muslime in Gujarat, 2002: Frauen verschiedenen Alters stellen in dieser Videoarbeit mit einem Tableau vivant ein berühmtes Bild aus dem 19. Jahrhundert nach, das für die Vereinigung und Gleichstellung aller indischen ethnischen Gruppen stand. Das alte und das neue Bild fließen immer wieder ineinander und verschmelzen. Unvermittelt erklingt eine Kinderstimme, die akustisch in die Bildsequenz einer Abtreibung mündet. Die Einstellung ist überlagert von allen drei Bildern: dem gemalten Bild der Einheit, dem Tableau vivant und von medizinischen Instrumenten, die in blutverschmiertes Gewebe vorstoßen. Die Frau in der indischen Kultur und die vielfältigen Arten der Gewalt gegen sie, ist ein zentrales Thema in Malanis Werk. Gewalt gegen Frauen hat in Indien viele Gesichter und grausame historische Ereignisse, wie bei der Teilung von Pakistan und Indien. Diese Abspaltung hat für Malani große persönliche Bedeutung, da ihre Familie aus Karatchi fliehen musste.

In den finsteren Zeichnungen der Mutants-Serie (1996─1997) verkörpert sie vielgestaltig menschliches Leid und Schmerz und spricht mit dem Bezug auf den Milchpulver-Skandal erneut ein historisches Ereignis an: Indien importierte in den 1980er Jahren Milchpulver aus Tschernobyl und verteilte es an tausende von Kindern, die dadurch genetisch geschädigt wurden. Malani möchte konfrontieren, sie erfindet nichts, wenn dies auch auf den ersten Blick in ihren opulent mythisch-märchenhaften Bildwelten mit der Leuchtkraft indischer Malerei nicht gleich offensichtlich ist. Ihre Arbeiten sind nicht einfach zu entschlüsseln, weil sie die konventionelle Narration übersteigen und verschiedenste kulturelle Zeichen und Bezüge postmodern verdichtet. Kaleidoskopartig verschachtelt sie Bilder, schafft Binnenszenen oder Überlagerungen. 

Neben den indischen Mythen, die Malani ganz selbstverständlich mit den griechischen verbindet, sind ihr auch die Texte von Berthold Brecht, Heiner Müller und Christa Wolf vertraut, die in ihre Auseinandersetzung mit Macht, Gender und Feminismus einfließen. Malani hat einige Jahre in Paris gelebt und ist quer durch Europa gereist. Medea, Kassandra, Sita, Mother India, Mutter Courage und Alice (im Wunderland) verschmelzen in ihren Arbeiten und beanspruchen eine zeitlose Allgemeingültigkeit und Gleichzeitigkeit. Der Figur der Kassandra kommt in Malanis Werk eine besondere Bedeutung zu: Sie steht gleichsam für alle Frauen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt sind, aber die Stärke haben sich entgegen aller Konventionen mutig für ein übergeordnetes Ziel einzusetzen. 

In Europa wurde Malani vor allem mit ihrem 14teiligenTafelbild Splitting the Other (2007) bekannt, das auf der Biennale von Venedig 2007 gezeigt wurde. Viele ihrer Arbeiten, wie auch Splitting the Other, haben wegen der Abfolge einzelner Sequenzen filmische Qualitäten. Malani hat in Anlehnung an das Filmische jedoch inzwischen eine ganz eigene Form entwickelt. Mit Klang- und Lichtchoreografie, Videoprojektionen und bemalten, zum Teil rotierenden Plexiglastrichtern, die auf den gegenüberliegenden Bildwänden Überlagerungen und Bewegung erzeugen, verwandelt Malani ihren Kunstraum in einen multimedialen Erfahrungsraum. Sie ist eine der einflussreichsten Künstlerinnen der indischen Gegenwartskunst. Die künstlerische Leiterin der dOCUMENTA(13), Carolyn Christov-Bakargiev, hat Nalini Malani in die das Kunstereignis begleitende Publikationsreihe mit einem Künstlerbuch (Juni 2012) und Notebook №023 Die Moral der Verweigerung aufgenommen, in dem sich Malani künstlerisch mit dem Essay von Arjun Appadurai auseinandersetzt.

veröffentlicht am 3.5.2012 – Caroline Schilling
Veröffentlicht am: 03.05.2012