HILMA AF KLINT

Hilma af Klint
Hilma af Klint (*26. Oktober 1862 auf Schloss Karlberg in Solna bei Stockholm, Schweden, †21. Oktober 1944 in Djursholm, Schweden) besuchte 1880 die Tekniska Skolan (Technische Schule) in Stockholm und belegte Kurse für Porträtmalerei bei Kerstin Cardon. 1882–1887 studierte sie an der Königlichen Akademie der Schönen Künste und verließ sie mit besten Noten. Ab den späten 1880er-Jahren arbeitete sie im eigenen Atelier, das die Kunstakademie ihr und zwei weiteren Künstlerinnen zur Verfügung stellte. 1896 bildete sie mit vier Freundinnen die spiritistische Gruppe »Die Fünf« und veranstaltete Séancen. Um die Jahrhundertwende arbeitete sie als Zeichnerin im Veterinärinstitut. 1908 begegnete sie Rudolf Steiner, dem späteren Begründer der Anthroposophie. 1920 wurde sie Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und reiste erstmals ins schweizerische Dornach, wo sie Rudolf Steiner erneut traf. In den Jahren zwischen 1921 und 1930 hielt sie sich immer wieder längere Zeit in Dornach auf, beschäftigte sich intensiv mit der Anthroposophie und besuchte Vorträge Steiners.

Bilder des Nicht-Sichtbaren

»Nicht das Sichtbare muß gemalt werden, sondern das, was bislang als unsichtbar galt, das nämlich, was der hellsichtige Maler sieht.« ⸺ Umberto Boccioni

Beschäftigt man sich mit abstrakter Kunst, begegnen uns zuerst die Künstlerpersönlichkeiten Wassily Kandinsky, Piet Mondrian oder Kasimir Malewitsch. Sie gelten als zentrale Figuren, Kandinsky als Begründer der neuen Stilrichtung, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland und Europa entwickelte. Doch welchen Platz nimmt die schwedische Künstlerin Hilma af Klint ein, die bereits 1906 abstrakte Werke schuf – mehrere Jahre vor der ersten Abstraktion Kandinskys? Trotz ihres bedeutenden Beitrags zur Geschichte der abstrakten Kunst ist das Œuvre af Klints, das über 1000 Gemälde, Aquarelle und Skizzen umfasst, bis heute nur in sehr engen Kunstzirkeln bekannt.

Hilma af Klint vollzog früh einen radikalen Bruch in ihrem Werk: Seit frühester Jugend bewegte sich die Künstlerin in spiritistischen Kreisen und nahm als Medium an Séancen teil, seit 1896 übte sie sich in écriture automatique und fertigte »automatische Zeichnungen« an, 1906 schließlich – nach zehnjähriger, intensiver Beschäftigung mit dem mediumistischen Arbeiten – entwickelte sie eine abstrakte Bildsprache. Kurz zuvor hatte sie eingewilligt, den Auftrag Amaliels anzunehmen und auf Geheiß dieses »hohen Meisters« Bilder einer übersinnlichen, nicht physischen Wirklichkeit zu malen.

Hatte die Künstlerin als äußerst begabte Zeichnerin und Malerin zunächst noch Landschaften und Porträts sowie botanische Aquarellstudien in einem vorwiegend naturalistischen Stil geschaffen, so entstand nun etwa der umfangreiche Zyklus Die Gemälde zum Tempel (1906–1915), bestehend aus insgesamt 193, überwiegend abstrakten Werken. Zunächst, in den Jahren zwischen 1906 und 1908, nahm af Klint die teilweise monumentalen Bilder des Zyklus vollständig von einer höheren Wesenheit entgegen, zwischen 1912 und 1915 verstand sie sich zwar weiterhin als Medium, nahm sich jedoch die Freiheit zur eigenen Gestaltung. Der Werkzyklus gründet sich auf Hilma af Klints grundsätzlicher Annahme einer geistigen Dimension unseres Daseins: Sie war bestrebt, nicht sichtbare Zusammenhänge – etwa zwischen Mensch und Kosmos, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, zwischen Männlichem und Weiblichem – sichtbar zu machen und damit ein tieferes Verständnis der Welt und der menschlichen Existenz zu erlangen.
Die organischen Formen der frühen Jahre wurden dabei zunehmend von geometrischen Abstraktionen abgelöst; nach ihrer Hinwendung zur Anthroposophie entstanden in den 1920er-Jahren davon beeinflusste Aquarelle mit frei fließenden, konturlosen Farben.

Beeinflusst von den spirituellen und okkulten Strömungen ihrer Zeit, von Spiritismus, der Theosophie und später der Anthroposophie, schuf Hilma af Klint Werke, die sich grundlegend von denen unterschieden, die im Anschluss an ihre akademische Ausbildung entstanden. Eindrucksvolle Beispiele für ihren präzisen Naturalismus einerseits, ihre radikale Abstraktion andererseits sind einzelne ihrer botanischen Studien, etwa Veilchenaquarelle aus dem Jahr 1919, welche die Pflanzen zugleich in ihrer naturalistischen Form sowie auf ihre Astralebene projiziert zeigen.

Angesichts ihres bemerkenswerten Œuvres wird Hilma af Klint derzeit als Pionierin der abstrakten Kunst entdeckt. Sie schrieb ihr Schaffen – fügen kritische Stimmen einschränkend hinzu – im Wesentlichen »höheren Mächten« zu, entwickelte ihre Abstraktionen nicht aus reinen Farben und Formen zu einer eigenständigen bildnerischen Welt. Unstrittig ist: Bislang finden die Werke af Klints nicht den Platz, der ihrer kunsthistorischen Bedeutung gebührt. Ihre ungenügende Rezeption erklärt sich aus den Vorgaben der Künstlerin selbst. Zu Lebzeiten förderte sie ausschließlich Ausstellungen ihrer figurativen, nicht aber ihrer abstrakten Arbeiten. Testamentarisch verfügte sie, dass dieser Teil ihres Schaffens erst 20 Jahre nach ihrem Tod öffentlich zugänglich gemacht werden darf und übergab ihren künstlerischen Nachlass in die Hände ihres Neffen Erik af Klint, der zudem darüber wachen sollte, dass ihr Gesamtwerk weder aufgeteilt noch veräußert wird. Erst in neuerer Zeit, 1986/87, also über 40 Jahre nach dem Tod der Künstlerin, wurde eine Auswahl ihrer Gemälde und Papierarbeiten in einer Ausstellung in Los Angeles, Chicago und Den Haag zusammen mit Werken anderer abstrakter Künstler gezeigt und erregte sogleich große Aufmerksamkeit. Eine aktuelle Ausstellungstournee von Stockholm über Berlin bis Málaga zum Gesamtwerk Hilma af Klints ruft uns nun die herausragende Protagonistin einer Kunst ins Gedächtnis zurück, welche die Darstellung der sichtbaren Wirklichkeit früh hinter sich ließ.

veröffentlicht am 6.5.2013 – Stefanie Gommel
Foto: Hilma af Klint in ihrem Atelier in der Hamngatan 5, um 1895, Hilma af Klint Archive, Detail

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