1914 — KÜNSTLER IM KRIEG

»Ich stehe mich pochendem Herz am Anfang der Dinge.« ⸺ Franz Marc

Die einen suchten in ihm Grenzerfahrungen um ihrer Kunst willen und folgten den Schlachtrufen, andere flohen vor ihm: Der Erste Weltkrieg hinterließ im Werk zahlreicher Künstler seine Spuren, die Erschütterung vor dem Welterzittern führte sie zu ergreifenden neuen Themen und radikal neuen künstlerischen Konzepten.

100 Jahre sind vergangen, seit die Welt am Abgrund stand. Im August 1914 begann nach dem Attentat von Sarajevo und der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg. 70 Millionen Soldaten kämpften auf Schlachtfeldern in Europa, dem Nahen Osten, in Afrika, Ostasien und auf den Weltmeeren, 17 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Der Erste Weltkrieg gilt, so die Worte des amerikanischen Historikers George F. Kennan, als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«. Als Ereignis, das einen langen Schatten warf: Oktoberrevolution, Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg sind erst durch die Erschütterungen des Ersten Weltkrieges zu erklären.

»Ich dachte, dass für den Bau der Zukunft der Platz auf eine andere Art gesäubert wird. Der Preis dieser Säuberung ist entsetzlich.« ⸺ Wassily Kandinsky

Dem beispiellosen Massensterben und seinen Folgen jedoch gingen Kriegsbegeisterung und Kampfbereitschaft bei einem Großteil der Bevölkerung voraus. Auch unter Künstlern und Intellektuellen fand sich ein breiter Konsens. Übersättigt vom bürgerlichen Wohlstand, gelangweilt von geistiger Stagnation, hungerten sie nach dem »großen Ereignis« (Georg Heym). »Marsch, Marsch, Hurrah!« lautet der Untertitel eines Titelbildes mit einem Trupp Soldaten, das Max Liebermann für die Zeitschrift Kriegszeit entwarf. Otto Dix, der mit Feuereifer in den Krieg zog, suchte »Futter« für sein künstlerisches Schaffen: »Ich bin so ein Realist, dass ich alles mit den eigenen Augen sehen will.« »Meine Kunst kriegt hier zu Fressen«, schrieb Max Beckmann, der sich freiwillig zum Sanitätsdienst verpflichtet hatte und das Gemetzel ebenfalls als Inspirationsquelle für seine Bilder sah.

Bei Franz Marc, einem glühenden Befürworter des Krieges, erhielt das unmenschliche Geschehen eine geradezu heilsgeschichtliche Qualität: »Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen.« Auch die italienischen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti priesen den Krieg als »einzige Hygiene der Welt«. Stark nationalistisch gefärbt waren die Äußerungen Lovis Corinths, der im Krieg die Chance sah, »daß heute deutsche Kunst an der Spitze der Welt marschiert.« Oskar Kokoschka oder Wilhelm Lehmbruck meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst, jedoch eher aus Sorge, dass »es eine ewige Schande sein wird, zu Hause gesessen zu haben« (Oskar Kokoschka).
Doch gab es ebenso Künstler, unter ihnen Paul Klee, Wassily Kandinsky oder Theo van Doesburg, die mit großer Skepsis und Sorge auf den bevorstehenden Krieg reagierten. André Breton beispielsweise, der Begründer des Surrealismus, verurteilte die »lächerlichste Kriegsbegeisterung« und die »infantilen chauvinistischen Deklarationen«. Wilhelm Lehmbruck oder Hans Arp entzogen sich der deutschen Mobilmachung, indem sie ins Ausland flohen.

Die Gewalterfahrung an und hinter der Front, die grausame Wirklichkeit des Krieges zerstörte am Ende naive Fortschrittshoffnungen selbst bei denen, die dem Kriegsgedanken zunächst nahe standen. Etliche Künstler hatten an der Front Verletzungen erlitten, andere waren unter dem Eindruck der Erlebnisse, der ständigen Todesangst zusammengebrochen. »Ich bin nicht mehr der Kerl, der sich im August freiwillig gemeldet hat«, äußerte Oskar Schlemmer quasi stellvertretend für viele Künstlerkollegen, »Körperlich nicht mehr, und ganz besonders in der Gesinnung.« Das erlebte Grauen bestimmte fortan das Schaffen zahlreicher Künstler, das ungeahnte Ausmaß des Massenvernichtungskampfes, die Leiden der Opfer, die zerstörten Landschaften wurden zu ihrem Thema. In seinem Radierzyklus Der Krieg oder in seinem gleichnamigen berühmten Triptychon stellte etwa Otto Dix wie kaum ein zweiter die Gräuel des Ersten Weltkriegs schonungslos, in schrecklicher Deutlichkeit und Düsternis dar. Auch Max Beckmann goss seine persönliche Erschütterung als Sanitäter an der Westfront in bleibende, mit fahrigem Strich angefertigte Bilder, der Schrecken und die Ängste veränderten gar – wie auch bei anderen Künstlern der Zeit – seinen bildnerischen Stil. Über das Erlebte hinaus bekundete George Grosz, der wegen eines Nervenzusammenbruchs letztlich als »dauernd kriegsunbrauchbar« eingestuft wurde, scharfe Kritik an denen, die den Krieg verursachten, ihn trugen und wies damit bereits voraus auf die gesellschaftskritische Kunst der 1920er-Jahre.

Während in den Jahren vor dem Weltkrieg die europäischen Avantgardekünstler über nationale und ideologische Grenzen hinaus ein enges Netzwerk bildeten, beendete die dramatische Zeit dieses fruchtbare, oftmals freundschaftliche Zusammenwirken auf abrupte Weise. Die Jahre zwischen 1914 und 1918 waren kulturverändernde Zäsur, waren jedoch Endpunkt und Neubeginn zugleich. Die international angelegte Künstlervereinigung Blauer Reiter beispielsweise wurde aufgelöst, doch entwickelten sich, angetrieben von den politischen Verhältnissen und quasi wie auf ihrem Nährboden, neue Strömungen und Tendenzen: »angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges« (Hans Arp) etwa der Dadaismus in Zürich, New York und Barcelona, die Abkehr vom Kubismus und die Hinwendung zur Klassik bei Pablo Picasso in Paris, die vollständige Abstraktion bei Kasimir Malewitsch in Russland, das Readymade bei Marcel Duchamp in New York. Lässt sich also von einer »Beschleunigung der künstlerischen Entwicklung durch den Krieg« (Uwe M. Schneede) sprechen? Von einer »vernichtenden und einer pervers-produktiven Kraft des Krieges« (DIE ZEIT)? »Zwar waren die internationalen Avantgardebewegungen 1914 zerstoben, aber die Individuen schufen aus den existentiellen Erschütterungen und der Erfahrung des vielfachen Leids neue Bildwelten«,argumentiert Uwe M. Schneede, die Künstler fanden »zu radikalen Neuansätzen, sei es unter dem Druck des Krieges, sei es gegen den Krieg oder trotz des Krieges.«

Der wohlhabende Bankier Albert Kahn nutzte ab 1908 sein Vermögen, um aus über 72000 Farbfotografien die »Archives de la planète« mit Aufnahmen aus aller Welt anzulegen und so das von den Brüdern Lumière erfundene farbfotografische Verfahren zu fördern – im Glauben, Wissen voneinander fördere das Verständnis über die Kulturen der Welt und damit den Frieden.
Diese grundsätzliche Überzeugung ist heute, angesichts wachsender Zweifel an Europa, aktueller denn je: Der derzeitige Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker hielt 2008 in seiner Gedenkrede im Deutschen Bundestag anlässlich des Volkstrauertages Skeptikern entgegen: »Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen! Nirgendwo besser, nirgendwo eindringlicher, nirgendwo bewegender ist zu spüren, was das europäische Gegeneinander an Schlimmstem bewirken kann.«

veröffentlicht am 30.6.2014 – Stefanie Gommel
Bild: Unbekannter Fotograf, Frankreich, Paris: IV. arr., Quai des Célestins, Schlafender, undatiert; aus der Publikation: 1914 – Welt in Farbe. Farbfotografie vor dem Krieg

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