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JANET CARDIFF & GEORGE B. MILLER
Die Künstler Janet Cardiff (*1957 in Brussels, Kanada) und George Bures Miller (*1960 in Vegreville, Kanada) schaffen in ihrem Werk seit Mitte der 1990er-Jahre gemeinsam illusionistische Räume, in denen die akustische Wahrnehmung sowie die skulpturalen und physischen Eigenschaften von Klang eine zentrale Rolle spielen. Ihre Installationen, angesiedelt im Grenzbereich zwischen Bildender Kunst, Hörspiel, Film und Theater, wurden in zahlreichen Einzelausstellungen gezeigt, unter anderem im Haus der Kunst, München (2012), im Hamburger Bahnhof, Berlin (2009), im Museu d’Art Contemporani de Barcelona (2007) und im Miami Art Museum (2007). Janet Cardiff und George Bures Miller waren Teilnehmer der Biennale of Sydney (2008) und der Biennale Venedig (2001). 2011 wurden sie mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet. Die Künstler leben in Berlin und Grindrod, Kanada.
Magie der Töne
»Wir alle suchen nach der wirklichen, authentischen Erfahrung, die uns fühlen lässt, dass wir tatsächlich auf dieser Erde sind.« ⸺ Janet Cardiff
»Ich mag die Idee, dass wir eine simulierte Erfahrung schaffen bei dem Versuch, Menschen sich enger mit dem wirklichen Leben verbunden fühlen zu lassen.« ⸺ George Bures Miller
Für seinen Beitrag auf der Biennale Venedig 2001 erhielt das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff und George Bures Miller den Sonderpreis der Jury: Die Ausstellungsbesucher gelangten bei der Mixed-Media-Installation The Paradise Institute über die Treppe eines einfachen Sperrholzpavillons in ein opulent ausgestattetes, schummrig beleuchtetes Lichttheater. Über eine Balustrade blickten sie auf die Miniaturnachbildung eines prachtvollen alten Kinos. Mit einem bereitgestellten Kopfhörer verfolgten sie einen Film, ein Genremix aus Film noir, Thriller, Science-Fiction und Experimentalfilm, unterlegt von einem höchst suggestiven Soundtrack. Doch wurde die Filmvorführung von Störungen unterbrochen, die offensichtlich aus dem Zuschauerraum kamen: Ein Mobiltelefon klingelte. »Ich glaube, ich habe den Herd angelassen«, flüsterte eine Frau ganz in der Nähe. Jemand im Zuschauerraum aß überaus geräuschvoll Popcorn. Und klopften an der Tür nicht schon die nächsten wartenden Zuschauer?
Die Betrachter des Paradise Institute tauchten immer mehr in die fiktiven Geschehnisse ein und wurden sich dabei peu à peu des raffinierten Spiels mit unterschiedlichen Realitätsebenen bewusst. Fiktion (des Films), fiktive Realität (des Zuschauerraums) und Realität (der Ausstellungsbesucher) flossen verwirrend ineinander.
Seit rund zwei Jahrzehnten gelingt es Janet Cardiff und George Bures Miller – sei es in The Dark Pool (1995), in Playhouse (1997), in The Berlin Files (2003) oder in The Killing Machine (2007) –, den Betrachter in perfekt simulierte, emotionale Erlebnisräume zu versetzen. Dabei »entsteht eine Idee von Wirklichkeit und was Wirklichkeit überhaupt ist, während wir die ganze Zeit Wirklichkeiten (vor)täuschen und mit Wirklichkeit spielen«, so George Bures Miller selbst.
Trotz ihrer bisweilen starken Visualität, ja Bildmacht richten sich die multimedialen Arbeiten des Künstlerpaars insbesondere an unseren Hörsinn. Durch ein avanciertes stereophones Verfahren zur Aufnahme- und Wiedergabe des akustischen Materials wird beim Zuhörer eine intensive räumliche Klangwahrnehmung ausgelöst und lässt ihn geradezu körperlich in eine faszinierende Welt aus Geräuschen, Tönen und Musik eintauchen.
Für ihre Multi-Media-/Sound-Installation The Murder of Crowsy (2009) etwa platzierten die Künstler 98 Lautsprecher, über die sie eine Komposition aus Stimmen, Musikstücken und Raumklängen einspielten und mit binauralem und Surround-Sound einen dreidimensionalen Klangraum schufen, in dem die akustischen Ereignisse in hyperrealistischer Qualität auftraten. In der von Janet Cardiff entwickelten und von George Bures Miller bearbeiteten Installation The Forty-Part Motet (2001) – nach einer Motette des englischen Renaissancekomponisten Thomas Tallis aus dem 16. Jahrhundert – verführten die Künstler das Publikum allein mit dem ältesten Mittel der Menschheit, der menschlichen Stimme: Insgesamt 40 Stimmen wurden separat aufgenommen und mittels ebenso vieler Lautsprecher wider gegeben – »eine musikgeschichtlich einzigartige Polyphonie« (Ralf Beil). Abhängig von ihrer Betrachterposition konnten die Ausstellungsbesucher hier, anders als bei einer klassisch-frontalen Aufführung oder Stereoaufnahme, jeder einzelnen Stimme oder dem Chor als klanglicher Einheit lauschen.
Die ungeheure atmosphärische Suggestivkraft der Klanginstallationen erklärt sich, wenn man die evolutionsgeschichtlichen Ursprünge des Hörsinns betrachtet. Er diente als Frühwarnsystem vor lebensbedrohlichen Angreifern, und noch heute finden sich im Unbewussten aller Menschen Spuren dieser archaischen Schutzfunktion. Das Ohr ist daher ein direkteres, ungeschützteres Organ menschlicher Wahrnehmung als das Auge, die Klangwelten des Künstlerduos dringen tiefer in Körper und Geist, als bloße Bilder es vermögen.
Bei der dOCUMENTA (13) in Kassel sind Janet Cardiff und George Bures Miller gleich mit zwei Werken vertreten: In Alter Bahnhof Video Walk lädt das Künstlerpaar die Besucher zu einem Video-Walk durch den Kasseler Bahnhof ein, ausgestattet mit einem Abspielgerät und Kopfhörern: Inszenierung und Realität verschwimmen,»eine Reise in die reale Irrealität – oder umgekehrt?« (DIE ZEIT).
Die Installation for a thousand years, die die Künstler auf einer Lichtung inmitten eines Waldstücks in der Karlsaue eingerichtet haben, »lässt es dem Zuhörer kalt den Rücken herunter laufen. Plötzlich hört er hinter sich das Geräusch von Panzerketten; Bäume fallen oder es nähern sich Flugzeuge. In diesem Klangfeld wird real, was so schwer zu fassen ist […] Man ist hier und zugleich woanders, ganz wach und doch in Geschichte verstrickt« (WELT ONLINE).