GERMAINE KRULL

Fotografin, Zeitzeugin

GERMAINE KRULL

»Es gibt wenige Künstler, die im Zeichen der Dunkelkammer geboren wurden, im Zeichen des Regenbogens der Linse, unter dem Stern des Objektivs. Sie gehören zu dem kleinen Trüppchen, dem Man Ray einst den Weg bahnte […]. Sie und Ihre Dunkelkammer erschließen eine neue Welt, eine Welt, in der Technik und Seele einander durchdringen.« ⸺ Jean Cocteau
 »Der Fotograf ist ein Zeuge. Der Zeuge seiner Epoche. Der echte Fotograf ist der Zeuge aller Tage, der Reporter.« ⸺ Germaine Krull

 »Germaine, Sie und ich sind die größten Fotografen unserer Zeit«, äußerte Man Ray einmal über seine Fotografenkollegin. Walter Benjamin und Jean Cocteau ließen sich von Germaine Krull fotografieren und gehörten ebenfalls zu ihren Bewunderern: Benjamin nahm sie in seine Kleine Geschichte der Fotografie auf und stellte sie in eine künstlerische Reihe mit August Sander und Karl Blossfeldt. Er schätzte Krulls radikale Bildästhetik und ihre politisch wie menschlich engagierte Haltung. Jean Cocteau pries, sie habe mit ihrer Kamera »eine neue Welt entdeckt, in der Technik und Seele einander durchdringen«. Nicht zuletzt diese Einschätzungen der berühmten Zeitgenossen belegen ihren Ruf als eine der bedeutenden Fotografinnen der Moderne. Trotz der Innovationskraft und der außergewöhnlichen Fülle ihres Werks wurde ihre Leistung bis heute jedoch kaum gewürdigt. Ihre Arbeiten waren in Archiven verstreut und so dem Publikum bislang kaum zugänglich. Retrospektiven in Paris und Berlin 2015/16 sowie eine begleitende Publikation lassen die Vertreterin der fotografischen Avantgarde der Zwischenkriegsjahre nun wieder- oder neu entdecken.

Germaine Krull führte ein unkonventionelles, nomadisches Abenteuerleben: 1897 als Tochter deutscher Eltern im ostpreußischen Wilda geboren, wuchs sie in Italien, Frankreich und der Schweiz auf und begann 1915 ihre Ausbildung an der Münchener Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie, Chemie, Lichtdruck und Gravüre. Im Alter von nur 21 Jahren eröffnete sie in Schwabing ihr erstes Fotoatelier und lichtete dort in pictorialistischer Manier Personen und Interieurs ab. 1918 schloss sich Krull bei der Novemberrevolution den Spartakisten an und gelangte nach ihrer Ausweisung nach Russland, wo sie als politische Aktivistin inhaftiert wurde. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland entschloss sie sich zu einer Mitarbeit im Porträtstudio von Kurt Hübschmann in Berlin. Zu den wenig erhaltenen Bildern der Frühzeit gehören weibliche Aktaufnahmen, die sich mit ihrem sexuellem Gehalt den Konventionen klassischer Nacktdarstellung entzogen, sowie Bilder der Modeentwürfe von Sonia Delaunay. Mit dem holländischen Filmemacher Joris Ivens, ihrem späteren Ehemann, zog sie 1925 für einige Monate nach Amsterdam, schließlich nach Paris.

Dort erlebte sie als Fotografin, mit nunmehr 29 Jahren, eine Blütezeit: Große Erfolgte feierte sie 1927/28 mit der Veröffentlichung ihres Fotobuches Métal. Ihre außergewöhnlichen Aufnahmen von technischen Bauwerken und Industrieanlagen – dem Eiffelturm, von Kränen und Hebebühnen in Amsterdam und Rotterdam, der Citroën-Werke, vom Kraftwerk in Saint-Ouen – katapultierten sie in die vorderste Riege der internationalen Fotoavantgarde, der Bewegung des Neuen Sehens. Mit kühnen, teils verwirrenden Ausschnitten und ungewohnten, extremen Perspektiven oder Doppelbelichtungen kündeten die Bilder von der Faszination der Technik. René Zuber, ein Schüler Moholy-Nagys, schwärmte von dieser neuen Ästhetik der Maschine, wenn Krull »ihre Kamera auf den Himmel richtete, den Eiffelturm von unten bis oben fotografierte«. In autobiografischen Schriften hielt die Fotografin selbst ihr Leben im Paris der 1930er-Jahre und ihre fotografische Praxis fest, erzählte etwa vom »Gipfel des Glücks« bei Spaziergängen im Hafen von Rotterdam: »Alles war aus Stahl; ich liebte es, auf dem Hafendamm entlangzugehen und beim Beladen und Entladen der Schiffe zuzuschauen; zu sehen, wie das funktionierte, war für mich vollkommen neu. Ich wollte sie sehen, ihre Kraft zeigen, wollte sie auf meinen Film bannen.«

Im Team mit den Fotografen André Kertész und Éli Lotar entwickelte sich Germaine Krull zur Pionierin einer neuen Reportageform. Für die Zeitschriften VU und Variétés, um nur die beiden für sie bedeutendsten zu nennen, lieferte sie ab Ende der Zwanzigerjahre Arbeiten im neuen Stil: Mit einer kleinen Icarette streifte sie durch die (nächtlichen) Straßen, (Jahr-)Märkte, Randgebiete von Paris, lichtete – mit einer oft lässigen Art des Fotografierens – Obst-, Gemüse- und Fischverkäuferinnen, Arbeiterinnen, Zigeuner und fahrendes Volk, Clochards und Obdachlose ab. Für ihre Reportagen unternahm sie zahlreiche Reisen, etwa in die Bretagne oder nach Südfrankreich, und so verfügte sie bald über eine »große Sammlung vorrätiger Reise- und Straßenbilder«, die sie bei französischen und ausländischen Zeitschriften veröffentlichten konnte. Zwischen 1928 und 1930 erlebte Krull so ihre größten Medienerfolge, bei ihrem Hauptauftraggeber VU beispielsweise war sie in 70 Ausgaben mit 281 Fotos vertreten.

Daneben beteiligte sich Germaine Krull an wichtigen internationalen Ausstellungen, darunter die große Werkbund-Ausstellung Film und Foto, die 1929 unter der Leitung von Moholy-Nagy die modernistische Fotografie in Europa und den USA vorstellte. Sie veröffentlichte Bildbände – neben Métal (1927/28) etwa 100 x Paris (1929), Études de nu (1930), Le Valois (1930), Marseille (1935) –, die im Rotationstiefdruckverfahren hochwertig produziert wurden. Sie erhielt lukrative Werbeaufträge: Die Betreiber der Kraftwerke von Saint-Ouen (1928) und Issy-les-Moulnieaux (1929) oder die Autohersteller Citroën und Peugeot (1929) engagierten die junge Fotografin, die zur Muse der Eisen und Maschinen avanciert war. Krull schuf ungewöhnliche Händefotos von Colette, André Gide, Jean Cocteau, Walter Benjamin oder André Malraux, und fertigte die Bilder für den ersten illustrierten Kriminalroman überhaupt, La Folle d’Itteville (1931), an dem sie zusammen mit Georges Simenon arbeitete.

Nach 1931 erhielt Germaine Krull, wohl auch infolge der Weltwirtschaftskrise, nur noch wenige lukrative Aufträge aus den Bereichen Zeitschrift und Werbung. Sie zog nach Monte-Carlo und verdingte sich dort zeitweise als Casino- und freie Lokalfotografin. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hielt sie sich für kurze Zeit in Rio de Janeiro auf, um sich der von Charles de Gaulle gegründeten Widerstandsbewegung France Libre anzuschließen, zog später über Kapstadt nach Brazzaville im Kongo. Dort entstanden Aufnahmen »vom Urwald und von Szenen mit Eingeborenen, von denen ich weiß, dass sie zu meinen besten Bildern überhaupt zählen«, so Germaine Krull selbst. Ende 1944 dokumentierte sie als Kriegsreporterin die Schlacht um das Elsass, im März 1945 die Befreiung des Konzentrationslagers in Vaihingen bei Stuttgart.

Nachdem ihre Auftragslage auch nach dem Krieg wenig einträglich blieb, übersiedelte Krull 1946 nach Asien und übernahm als Hotelmanagerin das älteste, 1876 gegründete Hotel Oriental in Bangkok. Unablässig näherte sie sich über die Jahre mit der Kamera dem buddhistischen Kulturerbe, fotografierte birmanische und thailändische Tempel, Statuen und Kunstgegenstände. Im Eigenverlag publizierte sie erneut einen Fotoband: Chiang Mai (um 1960).

Erst 1966 verkaufte sie ihre Anteile am Hotel und kehrte nach Poissy bei Paris zurück. 1968 ließ sie sich in Nordindien nieder und lebte dort mit Anhängern des tibetischen Dalai Lama in einem alten Tempel. Ihre Fotos dieser Jahre, die sie auch in dem Bildband Tibetians in India (1968) publizierte, verstand Krull als »Würdigung der tibetischen Weisheit«, als Loblied auf »die zeitlose Spiritualität der Menschheit«. Kurz vor ihrem Tod kehrte die deutschstämmige Fotokünstlerin nach Deutschland zurück und starb 1985 im Alter von 87 Jahren im hessischen Wetzlar.

veröffentlicht am 4.2.2016 – Stefanie Gommel
Veröffentlicht am: 04.02.2016