ANNETTE MESSAGER

Annette Messager
Annette Messager (*1943 in Berck, Frankreich) studierte 1962–1966 an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs in Paris, brach die Ausbildung jedoch vorzeitig ab. 2005 erhielt sie den Goldenen Löwen für den besten nationalen Beitrag der 51. Biennale Venedig. Ihr Werk wurde in zahlreichen Einzelausstellungen gezeigt, in jüngerer Zeit etwa im Musée d'Art Moderne et Contemporain de Strasbourg (2012), im Mori Art Museum, Tokio (2008) oder im Centre Pompidou, Paris (2007). Sie nahm darüber hinaus teil an der Biennale von Paris (1977), der documenta 6 (1977) und der Documenta11 (2002), an der Biennale von Sydney (1979, 1984 und 1990), an der Biennale Venedig (1980, 2003 und 2005) sowie an der Biennale d'art contemporain de Lyon (2000). Die Künstlerin lebt und arbeitet in Malakoff bei Paris.

 Die Identitätssucherin

»Was heißt es, eine Frau oder eine Künstlerin zu sein?« ⸺ Annette Messager

Gesichter, die mit Cremes oder Masken gepflegt und mit Massagerollern geglättet, Körper, die mittels Elektrostimulation oder Thermobehandlungen gestrafft werden. Für ihre Serie Les Tortures Volontaires aus dem Jahr 1972 sammelte Annette Messager in Zeitungen und Zeitschriften teils beängstigend, teils absurd oder gar komisch anmutende Bilder dieser und anderer »Qualen, die der Hölle von Dante würdig sind«, so Messager selbst, und setzte sie in einem ihrer Albums-Collections neu zusammen. »Eine richtige Sammlung aller nur möglichen und kostspieligen Foltern […] Mich schaudert, wenn ich all diese Frauen sehe, die sich selbst martern.« Eine ungebrochen aktuelle Arbeit zu den vielfältigen Prozeduren, der sich vor allem Frauen unterziehen, um »schöner«, begehrenswerter auszusehen, und ein eindrucksvolles Beispiel für die immer wieder beklemmenden Recherchen Messagers zu den Mustern weiblichen Verhaltens.

Seit Anfang der 1970er-Jahre setzt sich die französische Künstlerin in ihrem Werk kritisch mit der Rolle der Frau, zunächst auch mit ihrer Rolle als Frau auseinander. Für eine Galerieausstellung in Paris steuerte sie 1971 erstmals einen leblosen Spatzen mit einem selbst gestrickten Umhang bei – der Auftakt für ihre Serie der Pensionnaires, in der sie sich zum ersten Mal der Taxidermie, der Verwendung präparierter Tiere, zuwandte und dabei mitunter weiblich konnotierte, häusliche Materialien wie Wolle einsetzte. 1974 bestickte sie Taschentücher zart mit frauenfeindlichen Sprichwörtern wie »Wenn ein Mädchen zur Welt kommt, weinen die Wände« – ein starker Gegenpol zu den Strategien der zu dieser Zeit vorherrschenden Konzeptkunst und Minimal Art. »Ich interessierte mich für die abgewerteten Künste. Als weibliche Künstlerin wurde ich zu jener Zeit als abgewerteter Künstler betrachtet, als Angehörige einer Minderheit. Diese offensichtliche Tatsache wollte ich in meiner Arbeit hervorheben.«

Ihr Spiel mit den Klischees von Weiblichkeit, ihr Angriff auf gesellschaftlich proklamierte, starre Geschlechtermodelle führte die Künstlerin Mitte der 1970er-Jahre zu ihrer vielzitierten Äußerung: »Seit einigen Jahren gibt es mehrere Annette Messagers: Annette Messager, die Sammlerin, Annette Messager, die praktische Frau, Annette Messager, die Trickserin, Annette Messager, die Künstlerin. Da ich keine Titel hatte, habe ich mir selbst welche gegeben und bin eine ›wichtige‹, gut definierte Persönlichkeit geworden. Diese multiplen Annette Messagers erlauben mir, gleichzeitig sehr unterschiedliche Arbeitsformen zu präsentieren, da man ja viele unterschiedliche und widersprüchliche Personen in sich vereint. Bewusst habe ich Bereiche angesprochen, die man bisher als uninteressant betrachtet hat: das Nähen; zu wissen, wie man gefällt; das Kochen etc. […] Meine Daseinsbedingung verlangte von mir, zart zu sein, zurückhaltend, gelehrig, ich habe das Spiel respektiert, um deutlich zu machen, dass mir nichts anderes übrig blieb, als Charme vorzutäuschen.«
Folgerichtig teilte die Künstlerin ihre Zweizimmerwohnung auf: Ihr Schlafzimmer nutzte sie ausschließlich für Annette Messager, die Sammlerin und »eignete sich wie jeder Sammler das Leben anderer an, als hätte sie kein eigenes«, das Wohnzimmer betrachtete sie als Atelier für Annette Messager, die aktive Künstlerin; in Ma Meilleure Signature übte sie unterschiedlichste Unterschriften ein – die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in ihrem Werk begannen zu verwischen.

Auf ihrer Suche nach einer authentischen weiblichen und künstlerischen Identität unternahm Annette Messager ab den frühen 1980er-Jahren mitunter irritierende, ja provozierende Befragungen des menschlichen Körpers. Für Mes Voeux (1988–91) etwa verband sie Hunderte von an Schnüren aufgehängten, entblößenden Fotografien – von Mündern, Ohren, Füßen, Nasen, Genitalien, Händen oder Brüsten – zu einer Assemblage von großer Poesie und Schwerelosigkeit, die an Votivbilder erinnerte und dabei zum Ausdruck brachte, dass sich die Künstlerin vom »Brimborium des Katholizismus«, so ihre eigenen Worte, angezogen fühlt.
In ihrer Installation Mes Petites Effigies (1988/89) band Messager Schwarzweißfotografien von Körperfragmenten derangierten Stofftieren um den Hals. Plüschtiere ziehen sich wie Tierpräparate leitmotivisch durch das Œuvre der Künstlerin, sie werden von ihr zerlegt, ausgeweidet, fragmentiert: »Die Stofftiere sind meine Musen […] Wesen, die starke Gefühle auszulösen im Stande sind. Nicht nur bei Kindern. Ich unterziehe sie einer Vivisektion, um ihr Innerstes zu sehen.« In ihrer großen Installation 2 Clans 2 Familles aus dem Jahr 1998 stellte sie einer Plüsch- eine Plastikfamilie gegenüber, »zwei feindlich gesinnte Clans«: »Die Plüschteile repräsentieren die Pelzmäntel, während die Plastiktüten die Armen symbolisieren, die zwar solche Plastiktüten tragen, dabei aber wegen der Farben viel fröhlicher wirken als der herunterhängende Plüsch. Dem Leben sind sie viel näher.«
Installationen mit Organen schließlich führen tief unter die Haut, hinein in den menschlichen Körper: In der Arbeit Pénétration (1993/94) beispielsweise hingen weiche, aus bunten Stoffen gefertigte innere Organe an Schnüren von der Decke, verzaubernd und verstörend zugleich.

Mit ihrer Mischung verschiedenster Materialien und Medien ist Messagers sehr persönlicher Bilderkosmos ebenso verspielt wie tiefgründig, ebenso poetisch wie beklemmend. Ihre Beschäftigung mit emotional hoch aufgeladenen Themen – auf Fotografien in Les Enfants aux Yeux Rayés (1972) überkritzelte sie den abgebildeten Kindern mit heftigen Kugelschreiberstrichen die Augen – schockierte die Kunstöffentlichkeit.
»Alles in allem beruht meine Arbeit auf der Vertrautheit mit Materialien, die jedem bekannt sind und gleichzeitig ein Unwohlsein erzeugen, indem aus ihnen merkwürdige Dinge gezaubert werden«, beschrieb Messager einmal ihre Schaffensmethode. In einem aktuellen Interview fügte sie hinzu: »Viele Menschen sagen: ›Ihr Werk ist so humorvoll‹. Andere sagen: ›Es ist so düster, es handelt vom Tod‹. Aber es vereint beides: Es ist humorvoll und grausam zugleich. Das Leben ist so.«

veröffentlicht 1.7.2013 – Stefanie Gommel