INTERVIEW MIT JÜRGEN SCHADEBERG

»Der erste Moment ist dokumentarisch, aber dann taucht man tiefer ein, und die Sache wird menschlich. Dadurch entwickelt sich eine Art Magie.« ⸺ 1931 in Berlin geboren, ging Fotograf Jürgen Schadeberg 1950 nach Südafrika und arbeitete dort für Drum, die erste Zeitschrift für schwarze Lese. Früh porträtierte er den jungen Anwalt Nelson Mandela genauso wie das Nachtleben im dynamischen schwarzen Stadtteil Sophiatown. Die ungeschönte Darstellung der Lebensumstände eines Großteils der schwarzen Bevölkerung wurde schließlich zu seinem Hauptanliegen. 

Sie gelten als einer der bekanntesten Fotografen Südafrikas. Wie hat es Sie dorthin verschlagen?

Ich war 19 und wollte die große Welt sehen. Ich bin in Berlin aufgewachsen und nur in den Ferien mal nach Thüringen zu meinen Großeltern gefahren.

Hätte sich da nicht eher New York oder Paris angeboten?

Meine Mutter ist 1947 ausgewandert. Ich habe noch in Hamburg Fotografie studiert, war Volontär bei der Deutschen Presseagentur bis 1950 und bin dann auch nach Südafrika. Aber es stimmt, ich wäre eigentlich lieber nach New York gegangen.

Sie haben als Agenturfotograf begonnen. Wo sind die Grenzen zwischen journalistischer, dokumentarischer und künstlerischer Fotografie?

Der Fotojournalismus ist mehr als dokumentarische Fotografie. In den 1950er-Jahren sprachen wir vom »concerned photographer«, dem Fotografen, der sich um die Welt kümmert. Man geht weg vom reinen Journalismus und erzählt eine Geschichte. Ich habe zum Beispiel ein Buch über die Situation der Farmer in Südafrika gemacht. Der erste Moment dabei ist dokumentarisch, aber dann taucht man tiefer ein, und die Sache wird menschlich. Dadurch entwickelt sich eine Art Magie.

Kann Fotografie etwas bewegen?

Meine Ausstellung zur Situation der Farmer wurde an vielen Orten gezeigt. Ein Mann, der einen Golfplatz besitzt, hat sie sich angeschaut und daraufhin ein paar Millionen investiert, um für seine Arbeiter Häuser zu bauen und für die Kinder Spielplätze zu schaffen. Das habe ich mehrere Male gehört. Dass man sehen konnte, wie die Menschen tatsächlich leben, hatte also einen großen Effekt.

Sie wollen also Dinge zeigen, die man sonst nicht sieht?

1964 habe ich mal Oxford Circus in London fotografiert. Zwanzig Jahre später wurde ich von einer Illustrierten wieder dorthin geschickt, aber es war eine ganz andere Welt, die Leute sahen anders aus, die Körpersprache, wie sie sich bewegten. Dasselbe habe ich in Johannesburg erlebt. Das hat sich in den letzten fünfzig Jahren völlig verändert. Johannesburg war einmal eine Stadt, die vollkommen weiß war und nichts mit Afrika zu tun hatte. In den letzten 15 Jahren ist sie eine afrikanische Stadt geworden. Aber wenn wir immer an einem Ort leben, sehen wir solche Dinge nicht.

Fotografieren Sie immer noch mit Ihrer guten alten Leica?

Das ist keine gute alte Leica mehr, sondern eine Digitalkamera. Ich mache beides: Farbe in digital und schwarz-weiß mit Film. Ich habe meine Dunkelkammer und drucke in schwarz-weiß und mache meine Farbbilder am Computer, was keineswegs einfacher ist. Wenn man es gut machen will, dauert es länger und ist teurer. Worauf es ankommt, ist aber letztlich der Moment, den man aussucht.

Sie arbeiten meistens thematisch.

Ja, aber ich habe immer eine Kamera dabei. Man sieht etwas, einen Moment, der interessant, wichtig oder humorvoll ist. Wenn es aber um ein Thema geht, kommen zwei weitere Kameras dazu, dann geht es zwölf Stunden am Tag raus, wochenlang. Danach werden die Bilder ausgewählt und zusammengebaut.

Was machen Sie mit den restlichen Fotografien?

Es bleibt alles da. Ich habe über 100 000 Negative. Ein Nachteil an digitalen Fotografien ist, dass sie irgendwo abgespeichert werden. Das Schöne an Negativen ist, dass sie bestehen bleiben und man sie sehen kann.

Sie scheinen sehr produktiv zu sein.

Na, was soll ich denn auch sonst machen? Ich arbeite mal ein bisschen in meinem Garten, lese ein Buch, schaue einen Film an.

Sie leben inzwischen wieder in Frankreich. Wo fühlen Sie sich zuhause?

Wo ich bin. Ich fühle mich sehr wohl in Frankreich. Ich fühle mich auch wohl in Südafrika, aber in den letzten Jahren hat es sich dort sehr verändert, sodass es mich nach Europa gezogen hat. Inzwischen gibt es genauso viel Apartheid wie früher, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Jetzt machen die Schwarzen dasselbe wie früher die Weißen. Das fand ich sehr deprimierend. Man müsste wieder von vorne beginnen, aber ich bin nicht mehr 18 und kann das nicht mehr.

Was planen Sie als Nächstes?

Ich habe Ende 1970er-Jahre in Deutschland gewohnt und bin viel mit dem Auto gefahren. Im vergangenen Jahr habe ich mal wieder Deutschland und Italien besucht - aber es ist verrückt, es gibt heute nur noch Laster an Laster. Die Verkehrsadern sind verstopft, die Zivilisation wird einen Herzinfarkt bekommen. Keiner sieht das. Oder man sieht es, macht aber nichts. Deshalb möchte ich etwas machen. Das ist die Stärke der Fotografie, das zu zeigen, was wir noch nicht gesehen haben. Das ist die Kunst.

veröffentlicht am 19.5.2008<