INTERVIEW MIT NANCY BOROWICK

»Als Gesellschaft vermeiden wir es meist, über den Tod zu reden. Aber wie das Leben selbst ist auch der Tod ein Teil der universellen, menschlichen Erfahrung.« ⸺ Als bei den Eltern der Fotojournalistin Nancy Borowick Krebs im Endstadium diagnostiziert wurde, fasste Nancy den Beschluss, das zu tun, was sie am besten kann: zu dokumentieren. Mit der Kamera hielt sie das Leben ihrer Familie fest und lernte während dieser sehr intensiven Zeit viel über sich selbst, ihre Familie und Beziehungen im Allgemeinen.

Liebe Nancy, wie bist Du auf die Idee gekommen, Deine Eltern während ihrer Krebstherapie fotografisch zu begleiten?

Das Fotografieren begann ziemlich organisch: Ich wusste nicht, wie viel Zeit mir noch mit meinen Eltern verbleiben würde, wusste jedoch, dass ich so oft wie möglich mit ihnen zusammen sein wollte. Das Fotografieren war ein vertrauter Kontext, durch den ich – in geschützter Distanz zur Realität – besser verarbeiten konnte, was geschah. Bis zur Krebsdiagnose meiner Eltern lebte ich stets mit dem Gefühl, dass beide immer da sein würden und mich auf meinem Lebensweg begleiten. Als ich dann merkte, dass ich sie vor meinem 30. Geburtstag beide verlieren würde, wollte ich einen Weg finden, sie festzuhalten und zu erfassen, wer sie waren.

Was sollen die Menschen von dem Betrachten des Buches mitnehmen?

Als meine Eltern mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert wurden, beschlossen sie, die verbleibende Zeit zu nutzen. Sie entschieden sich weiterhin zu leben, zu wachsen und zu lieben. Ihr Mut und ihre Stärke haben mich und andere dazu inspiriert, nach ihrem Beispiel zu leben. Während der kurzen Zeitspanne ihrer Erkrankung haben sie mich sehr viel gelehrt und diese Lektionen möchte ich mit anderen teilen. Mein Vater sagte einmal: »Mir wurde nie ein langes Leben versprochen; jeder Tag ist ein Geschenk.« Das lernte er sehr früh, weil auch seine Eltern beide an Krebs starben, als er jung war. Aus diesem Grund genoss mein Vater sein Leben immer in vollen Zügen. Ich hoffe, The Family Imprint bietet Menschen in ähnlichen Lebenssituationen ein Gefühl des Aufgehobenseins und der Gemeinschaft. Ich weiß aus erster Hand, wie einsam und beängstigend diese Zeiten sein können. Vielleicht inspiriert The Family Imprint seine Leser, die verbleibenden Momente wertzuschätzen und die Menschen, die einem lieb sind, nah bei sich zu halten. Es mag wie ein Klischee klingen, aber »Das Leben ist kurz« hat sich zu einem täglichen Mantra meines Alltags entwickelt. Es ist ein Klischee, das wahr ist!

Welche Rolle spielt die Kunst bei der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod?

Als Gesellschaft vermeiden wir es meist, über den Tod zu reden. Aber wie das Leben selbst ist auch der Tod ein Teil der universellen, menschlichen Erfahrung. Wir wissen alle, wie die Geschichte endet – vielleicht also ein Anreiz zum Diskurs, um mit Wissen und Bewusstsein den Tod anzunehmen und zu verstehen und die Zeit zu nutzen, die wir haben. Fotografie spricht eine universelle Sprache und kann ein mächtiges Werkzeug sein, um über schwierige Themen wie Tod oder Krankheit zu sprechen. Nachdem meine ersten Fotos veröffentlicht wurden, erhielt ich eine E-Mail, in der die Absenderin erklärte, die Bilder hätten ihr zwar Angst gemacht, aber sie sei dankbar gewesen sie zu sehen, weil sie im Begriff war, Ähnliches zu durchleben. Nun wüsste sie, was zu erwarten sei. Unwissenheit ist nicht immer Glückseligkeit.

Dein Buch enthält sehr persönliche Erinnerungsstücke, Briefe und alte Familienfotos. Warum ist dies für die visuelle Erfahrung wichtig?

Im Rahmen von The Family Imprint wollte ich die ganze Geschichte unserer Familie erzählen – nicht nur die Krebsgeschichte. Meine Eltern wollten nicht durch ihre Krankheiten definiert werden, denn der Krebs war nur ein letztes Stück ihres Weges: Sie waren in ihren fast 60 Lebensjahren so viel mehr als nur diese Erkrankung. Um unsere Familiengeschichte mit all ihren Facetten zu erfassen, sollte man auf das gesamte Leben zurück schauen. Als ich begann unsere Geschichte aufzuarbeiten, haben wir jahrzehntealte Erinnerungen und Spuren unseres Familienlebens wiederentdeckt. Diese Einzelteile habe ich eingefügt, um dem Leser einen Gesamteinblick zu verschaffen und zu zeigen, woher wir kamen. Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, um mit Verlusten geliebter Menschen umzugehen – die Erzählung dieser Geschichte war meiner. Künstlerisch waren mir diese Erinnerungsstücke wichtig, weil sie Teil des Erlebten sind und das Buch in seiner Anmutung den Familienalben oder Gästebüchern in unseren heimischen Bücherregalen gleicht.

Hat der Akt des Fotografierens Dich vor dem bevorstehenden Verlust und der aufkommenden Trauer schützen können?

In der Tat gab es viele Momente, in denen das Fotografieren mir eine Distanz zur Realität ermöglicht hat und mir eine Pause von all der Schwere gewährte. Ich glaube, dass ich den Verlust meiner Eltern schon sehr lange betrauerte, noch bevor mein Vater krank wurde, weil meine Mutter schon so viele Jahre an Krebs litt und die Gewissheit, sie verlieren zu müssen, schon immer da war. In gewisser Weise war meine Kamera ein therapeutisches Instrument, das es mir erlaubte, unsere Situation besser zu verarbeiten – so konnte ich Tochter und Zeugin sein.

Warst Du überrascht von der Resonanz, als Dein Fotoessay Cancer Family Ongoing das erste Mal veröffentlicht wurde? Was haben Deine Eltern gedacht, als Du ihnen mitteiltest, dass die New York Times ihre Geschichte veröffentlichen würde?

Die erste Antwort meiner Eltern auf die Anfrage der New York Times war: »Warum sollte sich jemand für unsere Geschichte interessieren?« Ich hatte nie geplant, die Fotos zu veröffentlichen, weil sie sehr persönlich waren. Aber als sich die Gelegenheit bot, glaube ich rückblickend, dass meine Eltern auch zustimmten, weil sie mir helfen wollten, meine Karriere voranzutreiben. Sie haben meine künstlerische Arbeit immer sehr gefördert und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Niemand hat mit der Popularität gerechnet, die unserer Familiengeschichte auf einmal zuteilwurde. Wir waren wirklich überrascht, als hunderte E-Mails, Briefe und Telefonanrufe nach der Veröffentlichung eintrafen. Die Menschen nahmen Bezug auf unsere Erfahrung und teilten ihre Erlebnisse. Oft habe ich meinen Eltern zum Abschluss eines anstrengenden Tages diese Nachrichten vorgelesen. Es tat ihnen gut zu sehen, wie ihre Geschichte auf andere wirkte: Das Dokumentieren unserer Erfahrungen wurde eine Art therapeutisches Mittel und das Gefühl einer tiefen Verbindung mit Gleichgesinnten war für meine Familie sehr bedeutsam. In gewisser Weise konnten meine Eltern in ihren letzten Monaten mit ihrem Leben und Schicksal Menschen um sie herum positiv beeinflussen – sicherlich ein schönes Gefühl.

Unsere Welt ist bunt. Gab es einen Grund, warum Du Deine Familie in Schwarz-Weiß fotografiert hast?

Als Fotografin drücke ich meine Emotionen häufig in Bildern aus. Während die Welt um mich herum voller Farben war, fühlte sich meine Welt im Zuge der Erkrankung meiner Eltern oft farblos an – Zeit und Raum verschwammen. Schwarz und Weiß spiegelte das, was ich fühlte und wie ich mein Leben erlebte. Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht erkannte, war, wie wichtig dieses Projekt für mein geistiges Wohlbefinden war. In der letzten Runde des World Press Photo Awards musste ich die Originaldateien meiner Bilder einreichen. Diese waren in Farbe. Beim Heraussuchen der Bilder haben mich meine Gefühle völlig überwältigt und ich brach weinend zusammen. Diese Reaktion hat mich ziemlich unerwartet getroffen, denn ich hatte diese Bilder tausendmal gesehen. Aber in Farbe katapultierten sie mich zurück in diese Zeit und führten mir die harte Realität vor Augen.

Dein Vater starb am 7. Dezember 2013 und Deine Mutter fast auf den Tag genau ein Jahr später am 6. Dezember 2014. Was ging Dir in dieser Zeit durch den Kopf?

Ich glaube nicht an Zufälle. Natürlich war ich traurig und schockiert, als ein Jahr, nachdem mein Vater verstorben war, auch meine Mutter starb. Aber das Timing überraschte mich nicht: Ich hatte bereits gehört und vermutet, dass dies passieren könnte – wie bei vielen älteren Paaren. Ich fand Trost in der Tatsache, dass die beiden nun keine Schmerzen mehr hatten und wieder vereint waren. Meine Eltern haben meinen Geschwistern und mir bewiesen, dass das Leben lebenswert ist und selbst mit dem Blick auf das Ende noch eine Perspektive hat. Ja, unsere Zeit war kurz, aber wir haben ein Zeitbewusstsein geschenkt bekommen und machten das Beste aus jeder gemeinsamen Sekunde. Sogar ihre Beerdigungen, die ich auch fotografisch festgehalten habe, sind für mich wichtige Erinnerungen: Wenn ich diese Aufnahmen betrachte, sehe ich die Gesichter aller Menschen, die sie und uns geliebt haben. Diese Bilder trösten mich.

Vielen Dank, Nancy, für dieses Interview, Dein Buch und Dein Vertrauen in Hatje Cantz.

Wenn Sie mehr über die Arbeit von Nancy Borowick erfahren möchten, finden Sie hier ein Video-Interview.

veröffentlicht am 8.2.2017

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