FOTOGRAFIE

»Fotografieren ist einfach. [...] Doch die Fotografie ist eine sehr schwierige Kunst.« ⸺ Pontus Hulten, Pantheon der Fotografie, 1992

Mehr als jedes andere Bildmittel hat die Fotografie unsere Wahrnehmung der Welt geprägt und unser Verhältnis zur Wirklichkeit verändert. Sie ist ein allgegenwärtiges Medium: Sowohl die Technologie als auch ihre Erzeugnisse sind Bestandteile unseres Alltags, über die wir zumeist ohne größeres Nachdenken verfügen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass die Fotografie im aktuellen Kunstbetrieb immer breiteren Raum einnimmt. Kann ein Massenmedium Kunst sein?

Seit der Erfindung der Fotografie – als Stichdatum gilt hier allgemein die Veröffentlichung des Verfahrens der Daguerrotypie im Jahr 1839 – wird diese Frage immer wieder gestellt. Im Zeitalter der Industrialisierung war die Fotografie zunächst eine weitere neue Technik. Der Fotograf galt als Fachmann, der den Apparat bedienen und mit Hilfe chemischer und physikalischer Mittel die Bilder entwickeln konnte. Viele Argumente sprachen nach der damaligen Kunstauffassung gegen die Anerkennung der Fotografie als Kunstform: Der Fotograf kann mit Hilfe eines Apparates die Welt nur abbilden, während ein Maler oder Bildhauer in seinem Werk die Wirklichkeit transzendiert. Von einem Negativ lassen sich mehrere Abzüge herstellen: Wie soll man in der Fotografie ein Original definieren? Vor allem aber stellt sich immer wieder die Frage nach der schöpferischen Absicht und der künstlerischen Autorenschaft: Welche Aspekte verleihen der fotografischen Produktion eines Autors Werkcharakter? Ist ein Foto automatisch ein Kunstwerk, weil Pablo Picasso den Auslöser betätigt hat?

Die akademische Unsicherheit im Umgang mit der Fotografie verhinderte lange ihren Einzug in die großen Museen. Selbst in den USA, wo die Fotografie ein wesentlicher Faktor der Emanzipation von der europäischen Kunsttradition war, wurden erst in den 1950er-Jahren vermehrt fotografische Abteilungen gegründet. Lediglich das Museum of Modern Art in New York verfügt seit seiner Eröffnung im Jahr 1929 über eine eigene Abteilung für Fotografie. Die meisten europäischen Museen begannen erst in den 1960er- und 1970er-Jahren mit dem Aufbau fotografischer Sammlungen. Zu diesem Zeitpunkt war die Auflösung der traditionellen Gattungsgrenzen durch den sogenannten »Erweiterten Kunstbegriff« in vollem Gange und begünstigte die Anerkennung der Fotografie als eigenständige Kunstform.

Das Pariser Musée d'Orsay beschloss 1978, als erstes staatliches Museum im Geburtsland der Daguerrotypie, die Einrichtung einer Fotosammlung. In den 1980er-Jahren begannen die Preise für fotografische Werke auf dem Kunstmarkt deutlich zu steigen und künstlerische Fotografie wurde im Kunstkompass der Zeitschrift Capital gelistet. Fotosammlungen befanden sich bis dahin überwiegend in Privatbesitz und bildeten in vielen Fällen die Grundlage der erst in jüngster Zeit eingerichteten Fotoabteilungen deutscher Museen. Inzwischen haben Fotografie-Ausstellungen einen festen Platz im Programm der renommierten Ausstellungshäuser. Hinter der Vielfalt von Stilrichtungen in der zeitgenössischen Fotografie ist die Frage nach ihrem künstlerischen Rang in den Hintergrund getreten. Henry Fox Talbot, der Erfinder des fotografischen Abzugs auf Papier, war bereits vor 160 Jahren der Ansicht, die Fotografie sei »eindeutig ein Werkzeug [...], das in die Hände des findigen Geistes und der Kunst« gehöre.

Talbots Zeitgenossen glaubten sogar, die Fotografie würde die Nachfolge der Malerei antreten und diese schließlich völlig ersetzen. Zum Glück – für die Malerei und die Fotografie – haben sich die Dinge anders entwickelt. Als 1888 die Kodak-Box auf den Markt kam, verlor die Technologie ihre Exklusivität, der »Schnappschuss« wurde zum Volkssport. Die künstlerische Fotografie versuchte ihren Rang durch die Nähe zur Malerei zu legitimieren. Dieser so genannte »Piktorialismus« dominierte jahrzehntelang die deutsche, englische und amerikanische Fotografie. Ein wesentliches Merkmal dieser Auffassung von Fotokunst war die Nachbearbeitung der Abzüge zur Betonung einer individuellen Handschrift. Alfred Stieglitz und Edward Steichen gehörten zu den Protagonisten des Piktorialismus.

Stieglitz besaß allerdings die nötige Weitsicht, um neue Tendenzen in ihrer Bedeutung zu erkennen: In der letzten Ausgabe seiner Zeitschrift Camera Works veröffentlichte er im Jahr 1917 Bilder des Fotografen Paul Strand. Strands Bilder zu den Themen Kinderarbeit, Armut und Migration waren dokumentarische Aufnahmen mit politischem Anspruch. Die Abzüge wurden ohne Nachbearbeitung gefertigt. Strands Werk brachte die Wende zur »straigth photography«, die in Deutschland »Reine Fotografie« genannt wurde. Auch Stieglitz schloss sich dieser Richtung an, zu deren berühmtesten Vertretern Edward Weston und Ansel Adams gehören.

In den 1920er-Jahren entdeckte die künstlerische Avantgarde in den USA, Deutschland und der Sowjetunion die Fotografie als neues Ausdrucksmittel. Das experimentelle Werk von Man Ray und László Moholy-Nagy wirkte ebenso stilprägend wie die Entwicklung der Fotocollage im Dadaismus (John Heartfield, Hannah Höch). Als Gegenpol zu diesen Verfahren entstand in Deutschland eine Richtung, die analog zur Malerei als Neue Sachlichkeit bezeichnet wurde. Technische Perfektion, die präzise Beschreibung der Objekte und die Unterdrückung aller malerischen Effekte kennzeichnen diesen Stil und das Werk der Fotografen Albert Renger-Patzsch, August Sander und Karl Blossfeldt. Sanders berühmtes Projekt »Menschen des 20. Jahrhunderts« ist in seiner enzyklopädischen Anlage gleichzeitig ein Vorläufer der konzeptuellen Fotografie. In Frankreich entstanden im selben Zeitraum Eugène Atgets Ansichten von Paris. Seine Aufnahmen dokumentieren das Verschwinden historisch gewachsener Strukturen im Zeitalter des rasanten technischen Fortschritts. Walker Evans charakterisierte den Stil des Franzosen, in dem sich dokumentarische und künstlerische Elemente die Waage halten, als poetisch.

Evans war der erste Fotograf, dem das Museum of Modern Art im Jahr 1938 eine monografische Ausstellung widmete. Seine Bilder zeigten den amerikanischen Alltag in den 1930er-Jahren und wurden von Evans zu Foto-Essays zusammengestellt. Der als Ausstellungskatalog publizierte Band American Photographs ist das erste Künstlerbuch in der Geschichte der Fotografie. Die nordamerikanischen Museen zeigten in der Folgezeit relativ häufig Fotografie-Ausstellungen, in denen der puristische Stil mit seiner technischen Perfektion, strengen Kompositionen und bedeutungsvoller Aussage favorisiert wurde. Diese Kunstauffassung wurde in den 1950er-Jahren von Robert Frank in Frage gestellt, dessen Aufnahmen der amerikanischen Gesellschaft einen radikal subjektiven Blickwinkel demonstrierten. Fotograf*innen wie Diane Arbus und Lee Friedlander setzten diese Form eines dokumentarischen, aber sehr persönlichen Stils in den 1960er-Jahren fort. Die individuelle Perspektive in der dokumentarischen Fotografie wurde zu einem richtungweisenden Stilmittel, stieß jedoch immer wieder auf Ablehnung. Ende der 1970er-Jahre erregten William Egglestons scheinbare Schnappschüsse weniger wegen ihrer grellen Farbigkeit, sondern aufgrund ihrer trivialen Motive Anstoß.

Viele Maler*innen, die sich in den 1970er-Jahren im Zuge der Konzept-Kunst der Fotografie zuwandten, versuchten den künstlerischen Anspruch zu unterstreichen, indem sie Fotografien nicht als autonomes Einzelbilder zeigten, sondern ergänzende Texte verfassten, extreme Formate wählten oder Bildsequenzen arrangierten. Einzigartig ist das Werk von Bernd und Hilla Becher, die sich seit vier Jahrzehnten auf typologische Aufnahmen von Industriearchitektur konzentrieren. Durch die Anordnung der technisch und gestalterisch perfekt konzipierten Einzelbilder zu typologischen Reihen bewegt sich ihr Werk im Spannungsbogen zwischen dokumentarischer und abstrakter Form. Einen vergleichbaren Ansatz, der die persönliche Distanz und die Sachlichkeit dokumentarischer Aufnahmen betont, vertreten Künstler wie Robert Adams und Stephen Shore.

Seit den 1980er-Jahren thematisieren viele Fotokünstler*innen die Problematik der Konsumierbarkeit von Fotografie, indem sie große Formate verwenden und den Betrachter mit der physischen Präsenz der Fotografie konfrontieren. Jeff Wall benutzt dazu beispielsweise Großdias, auch Thomas Struth, Thomas Ruff und Axel Hütte verwenden große Formate. Die Bildthemen sind oft verblüffend traditionell, es dominieren klassische Genres der Malerei wie Porträt, Landschaft, Intérieur oder Stadtansicht.

Ein wesentliches Thema zeitgenössischer Fotografie ist die Selbstreflexion des Mediums, seiner Geschichte und seiner Wahrnehmung. Zwar ist der Glaube an die scheinbare Objektivität fotografischer Bilder zwischenzeitlich nachhaltig erschüttert worden – wenn auch weniger durch die Fotografie selbst, als vielmehr durch das Fernsehen – doch sind wir immer noch leicht bereit, eine Fotografie als Abbild der Realität wahrzunehmen. Unsere Sehgewohnheiten sind stark von formalen Kriterien geprägt, die ein Bild beispielsweise als Modefotografie, Nachrichtenbild, Porträtaufnahme oder Werbefoto erkennbar machen. Das Spiel mit Grenzüberschreitungen und der Bruch mit Sehgewohnheiten wird so ebenfalls zu einem wesentlichen Stilmittel zeitgenössischer Fotografie. Prominente Beispiele für diese Auffassung sind die Arbeiten von Cindy Sherman und Sharon Lockhart.

Digital oder analog: Das ist die Grundsatzentscheidung, die Fotograf*innen heute treffen müssen. Die elektronische Bildbearbeitung eröffnet der Fotografie neue Dimensionen. Künstler wie Andreas Gursky nutzen die Technik, um eine Vorstellung von der Realität zu illustrieren, die in der Wirklichkeit nicht zu finden ist. Die Vielfalt der fotografischen Stile und Handschriften wird immer größer. Sie hat dazu beigetragen, dass sich die Fotografie einer umfassenden Theorie oder Kunstgeschichte bis heute weitgehend entzogen hat. Für viele Künstler*innen liegt gerade darin der besondere Reiz der Beschäftigung mit der Fotografie.

veröffentlicht am 14.5.2002 – Andrea Gern<

Bild: Peter Kneffel, München, »Christopher Street Day«, 1999, Detail