Sprache: |
DOCUMENTA
Die Documenta gilt als wichtigste Ausstellung moderner Gegenwartskunst weltweit. Seit der ersten Ausstellung im Jahre 1955 schrieb die Schau maßgeblich an der Geschichte der Kunst mit.
Will man die über fünfzigjährige Geschichte der Documenta auf einen Nenner bringen, so kann man wohl sagen, dass sie – wie keine andere Großausstellung – immer wieder in die jeweils aktuelle Kunstdiskussion eingegriffen hat, sich die eine oder andere Haltung zu eigen machte und damit Kontroversen auslöste. Die Thesen, die die jeweils wechselnden Documenta-Leiter und -Leiterinnen formulieren, prägen für gewisse Zeit sowohl die Künstler*innen selbst als auch die Ausstellungsmacher*innen, die Galerist*innen, die Vermittler*innen, den Kunstmarkt, das Publikum.
Am 9. Juni 2012 öffnet das »Museum der hundert Tage«, wie die Documenta auch genannt wird, weil sie genau hundert Tage dauert, zum dreizehnten Mal in Kassel seine Pforten. Und wieder ist davon auszugehen, dass Hunderttausende in die hessische Stadt pilgern werden, um beim großen Kulturspektakel dabei zu sein. Carolyn Christov-Bakargiev, künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), sieht in diesem Kunstereignis jedoch mehr als eine Ausstellung. Da die Documenta in einer ganz eigenen Tradition wurzelt, verkörpert sie in ihren Augen einen Gemüts- oder Geisteszustand (»state of mind«), der sie von vergleichbaren internationalen Veranstaltungen unterscheidet.
Die erste Documenta 1955 wurde nach dem »Trauma« der damals jüngsten deutschen Geschichte in einem – auch politisch – besonderen Kontext ins Leben gerufen. Denn als sich Arnold Bode, Professor an der Kasseler Werkakademie, – zehn Jahre nach dem Ende des NS-Regimes – gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Werner Haftmann daran machte, in Kassel eine Bestandsaufnahme der modernen Kunst nach 1905 vorzunehmen, ging es ihm auch darum, den Deutschen einen quasi »demokratischen« Überblick über das Kunstgeschehen in der westlichen Welt zu bieten.
Die Zeit des Dritten Reichs hatte durch Krieg, Verfolgung, Zerstörung und eine rigide, antimodernistische Kunstpolitik eine tiefe Zäsur in der deutschen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts markiert. 1955 herrschte daher noch immer ein immenser Nachholbedarf. Und so formulierten die beiden Ausstellungsmacher, deren Engagement damals im Rahmen der Bundesgartenschau von der Stadt Kassel, dem Land Hessen und dem Bund finanziert wurde, ihre Ziele so: »Das Anliegen der Ausstellung ist (...), auf europäischer Ebene einmal die Entwicklungslinien der bildenden Kunst unseres Jahrhunderts seit den revolutionären und beunruhigenden Vorgängen zu Beginn unseres Jahrhunderts dokumentarisch nachzuzeichnen und die heute erreichten Positionen in möglichster Schärfe zu bestimmen.«
Der Ort, an dem diese Dokumentation stattfand, hatte Symbolcharakter: Zum einen lag Kassel nach der Teilung Deutschlands am Zonenrandgebiet, zum anderen hatte das dortige Museum Fridericianum, von dem 1955 nur noch eine Ruine stand, Geschichte geschrieben: Es war 1769 bis 1776 als erstes reines Museumsgebäude Deutschlands gebaut worden. Bis heute bildet das Fridericianum das Herzstück jeder Documenta. Dass die Documenta eine so weitreichende Zukunft haben würde, daran war in den 1950er-Jahren allerdings noch nicht zu denken. Doch Bodes Großprojekt war wegweisend. Er präsentierte 670 Werke von 148 Künstler und Künstlerinnen – Vertreter der klassischen Moderne und einer jüngeren Generation – und lockte damit 130 000 Besucher*innen an. Für jene Zeit waren das Rekordzahlen.
Die Presse und das Publikum waren begeistert. Und so entschieden die Beteiligten, dass die Documenta fortan im Turnus von vier Jahren – seit 1972 ist daraus ein fester Fünf-Jahres-Rhythmus geworden – stattfinden sollte. Zur Finanzierung wurde die Documenta GmbH gegründet, und Bode holte sich eine Reihe ausgewiesener Fachleute ins Boot, die mit ihm die Documenta 1959 verantworten sollten. Die noch aufwendigere zweite Kasseler Großausstellung wurde – wie inzwischen jede Documenta – zu einem Medienereignis. Bode und sein Team reisten durch die Welt, um die Kunst, die sie zeigen wollten, vor Ort auszusuchen. Bereits im Vorfeld wurde eine intensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit betrieben, ein Logo wurde entworfen, Broschüren und Fahnen wurden gedruckt; im Verlag DuMont Schauberg erschien ein dreibändiger Katalog.
Die Ausstellung selbst löste fast einen Skandal aus, denn das Schwergewicht der Schau lag ganz eindeutig auf der abstrakten Kunst, die viele Theoretiker damals als »Weltsprache« verstanden: Bode, so hieß es, verzichte »auf eine Gruppierung der Maler nach Nationen, um die Weltsprache der bildenden Kunst der Gegenwart zu bekunden« (Richard Biedrzynski in der Stuttgarter Zeitung). Einige Kritiker warfen Bode und seinen Kollegen dagegen Zensur vor, die Auswahl, so sagten sie, sei zu einseitig auf die ungegenständliche Kunst – vor allem auf die abstrakte amerikanische Malerei – beschränkt. Gleichzeitig wurde die Ausstellung durchaus politisch verstanden – im Klima des Kalten Krieges galt sie als Gegengewicht zur staatlich verordneten Kunst des sozialistischen Realismus im Ostblock. Kurt Winkler schreibt dazu (im Ausstellungskatalog Stationen der Moderne, Berlin 1988/89): »Vorwürfe dieser Art gehören mittlerweile zu den Standardargumenten gegen jede neue Documenta, gegen jede anspruchsvolle Übersichtsausstellung moderner Kunst überhaupt. Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, hier werde Kunstgeschichte ›gemacht‹, das heißt manipuliert.«
Nichtsdestotrotz ist es Bode und seinen Kollegen gelungen, durch die Documenta die Diskussion um die Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst in die Öffentlichkeit zu tragen. Ihre Nachfolger*innen sind diesen Weg weitergegangen. Der Schweizer Harald Szeemann zum Beispiel, dessen Documenta 1972 den tiefen Zwiespalt zwischen »Bilderfreunden und Bilderverächtern« zeigte, also zwischen Konzept- oder Aktionskünstlern wie Joseph Beuys – der zehn Jahre später in Kassel die ersten seiner berühmten 7000 Eichen pflanzte – und realistischen Malern oder Bildhauern wie Edward Kienholz. Oder Manfred Schneckenburger, der 1977 und 1987 die Documenta leitete und unter anderem versuchte, Architektur und Design in das Konzept zu integrieren. Oder Jan Hoet, der 1992 aus der Documenta ein riesiges, sinnliches Kunstspektakel machte, damit zwar viel Kritik einstecken musste, aber auch 616 000 Besucher*innen anzog.
Die Französin Catherine David wiederum besann sich auf die stillen, intellektuellen Seiten der Kunst. Sie förderte vor allem den anspruchsvollen Diskurs, indem sie zu der Gesprächsreihe »100 Tage – 100 Gäste« einlud, bei der das Publikum Künstlern, Philosophen, Filmemachern und Autoren begegnen konnte. Catherine Davids Konzept ging auf: 1997 sahen 629 000 Menschen die Documenta. Übertroffen wurde diese Zahl noch durch die documenta11 im Jahr 2002. Ein schöner Erfolg für den aus Nigeria stammenden US-Amerikaner Okwui Enwezor, der die Documenta mittels weltweiter Veranstaltungen im Vorfeld (Plattformen 1–4) zu einem Diskurs über die globalen soziopolitischen Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptionsbedingungen von Kunst erweiterte und sie vom Primat des westlichen Kunstbegriffs befreite. Bewusst gegen eine am Kunstmarkt orientierte Leistungsschau entschied sich 2007 Roger M. Buergel und lud vornehmlich weniger bekannte Künstler von der »Peripherie« ein. Seine sehr subjektive Auswahl trug ihm die massive Kritik ein, einer »Weltkunstausstellung« nicht gerecht zu werden. Dennoch verzeichnete die Documenta mit 751 000 Besucher*innen einen neuen Publikumsrekord.
Der dOCUMENTA (13) wird laut Carolyn Christov-Bakargiev kein vorgefasstes kuratorisches Konzept zugrunde liegen, sondern sie soll »wie in einer Choreografie vielfältige Materialien, Methoden und Wissensformen« zusammenführen, die die »heterogenen Ontologien« und »paradoxen Bedingungen des heutigen Lebens« zum Ausdruck bringen. Ob dies gelingt, davon wird man sich 2012 in Kassel ein Bild machen können.