CARSTEN HÖLLER

Carsten Höller
Carsten Höller (*1961 in Brüssel, Belgien) lebt und arbeitet in Köln und Stockholm. Er studierte Agrarwissenschaften (Habilitation) und realisiert seit den 1980er Jahren künstlerische Arbeiten. 1993 und 2005 nahm er an der Biennale von Venedig teil. 1997 an der documenta X, gemeinsam mit Rosemarie Trockel. Carsten Höllers Arbeiten werden in den international wichtigsten Museen präsentiert.

 

Von Pilzen, Mäusen und anderen Wirklichkeiten

»I'm very interested in the idea of the double, not as a way of questioning reality – what's real or what's fake – but of taking away certainty. It's an attitude that there could be two things at the same time. You don't have to make a decision; you could live with both options.« ⸺ Carsten Höller

Seit er in der Turbinenhalle der Tate Modern in London zwei riesige Rutschen installierte und über drei Millionen Besucher kreischend aus fünfundfünfzig Meter, über drei Stockwerke hinweg in die Tiefe sausen ließ, lieben ihn auch die Londoner. Es war eine der erfolgreichsten Installationen in der Geschichte der großen skulpturalen Kunstwerke, aber vor allem ein einzigartiges sinnliches und körperliches Kunst-Erleben.

Es ist fast unmöglich sich den Arbeiten des deutschen Künstlers und Biologen Carsten Höller zu entziehen, denn seine Kunst fordert zur Interaktion und zum Selbstexperiment auf, um etwas über sich und den Menschen im Besonderen zu erfahren: wie in Lichtecke (2001) die 1920 Glühbirnen, die ihrem Betrachter rhythmisch Licht und Wärme entgegenfeuern oder die visuellen Phänomene durch Synchronisation der Gehirnaktivitäten mit flackerndem Licht in Instrumente aus dem Kiruna Psycholabor (2001). Nicht zu vergessen, seine AktionUmkehrbrille von Manchester (2008), mit der Freiwillige acht Tage lang ihre Wahrnehmung auf den Kopf stellen konnten: eine Reminiszenz an den Psychologen George Stratton und dessen erste Sehexperimente mit Umkehrbrillen, um herauszufinden, ob sich das Gehirn an das umgekehrte Sehen anpassen kann.

Das Phänomen der menschlichen Sinneswahrnehmung und die damit einhergehende Konstruktion des eigenen Selbst macht den besonderen Charakter seiner Werke aus, wobei es Carsten Höller nie um Ergebnisse geht, sondern um Bewusstsein und darum, den Betrachter seiner Arbeiten mit einzubeziehen. Bereits seine frühesten Arbeiten aus den 1990er-Jahren erinnern nicht selten an wissenschaftliche Experimente, in denen Versuchssubjekte/-objekte unter genau geplanten Bedingungen außergewöhnlichen Erfahrungen ausgesetzt sind. Der Ausstellungsbesucher ist bei Höller immer gleichzeitig Versuchsperson und Experimentator. 

Ein besonderes Erlebnis bietet Drehendes Hotelzimmer (2008), ein Minimalzimmer auf drei rotierenden Glasplatten, das auffordert einmal mitten in einer Ausstellung zu nächtigen, zwischen Pilzen, Kanarienvögeln, Spiegeln, Rentieren, Mäusen, Karussellen und all den anderen Höllerschen Objekten. Der Hotelgast erfährt nicht die bloße Zurschaustellung des repräsentativen Objekts in exklusiver Räumlichkeit, sondern erlebt methodisch die Befindlichkeit verändernde, unmittelbare Einflussnahme seiner Umgebung. Die Versuchsanordnung provoziert die individuelle Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung und der daraus resultierenden Erkenntnis. Es werden Reaktionen wie Zweifel und Orientierungslosigkeit geweckt und das vermeintlich »Gegebene«, bis hin zu Euphorie und Spaß, generell hinterfragt. Und obwohl Carsten Höller Orte stets in eine neue Welt verwandelt oder anders gesagt, alles auf den Kopf stellt, ist es eine Höllersche Spezialität die Balance zwischen Idee und spielerischer Ausführung zu halten. Höller wäre nicht Höller, wenn seine Installationen nicht von einem theoretischen Gerüst umgeben wären. 

In Deutschland kennt man den Künstler spätestens seit seiner Teilnahme an der Documenta X, als er mit Rosemarie Trockel das Haus für Schweine und Menschen baute. In den letzten Jahren hat Höller immer wieder mit Pilzen experimentiert, bis hin zum Verzehr eines Fliegenpilzes und seinen hallozinogenen Wirkungen. Aber Höller verfolgt mit seiner Arbeit einen uralten vedischen Mythos – mehr kulturwissenschaftlich denn esoterisch. Er ist auf den Spuren von »Soma«, dem heilbringenden Trank, der Erkenntnis und Zugang zur göttlichen Sphäre versprach und rituell im 2. Jahrtausend v. Chr. verwendet wurde, jedoch dessen Inhaltsstoffe nicht zweifelsfrei überliefert sind. Aus diesem Sachverhalt heraus entwickelt Höller mit übergroßen tableaux vivants wundersame Szenarien, aber auch Laborsituationen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft, Labor und Vision, vermeintlicher Objektivität und gesteigerter Subjektivität. Und inmitten der Anordnung, auf einer pilzförmigen Plattform erhebt sich - ein Hotelzimmer.

veröffentlicht am 8.11.2010 – Caroline Schilling
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Veröffentlicht am: 08.11.2010