INTERVIEW MIT MARK GORDON

»Kunst muss als etwas angesehen werden, das es zu wertschätzen gilt, als ein Investitionsgut für die Zukunft.« ⸺ Der Kulturjournalist Marcus Woeller im Gespräch mit Mark Gordon, Autor des Kunstführers Contemporary Europe. Art Guide.

Sie haben als Art Professional für das Whitney Museum of American Art in New York gearbeitet, für das Auktionshaus Christie's und eine Galerie geleitet. Nun haben Sie den Contemporary Europe Art Guide veröffentlicht. Haben Sie all die Institutionen besucht, die Sie in Ihrem Führer beschreiben?

Der Kunstführer hat die letzten zwei Jahre meines Lebens beansprucht. Sechs Monate habe ich daran geschrieben, da war es nicht möglich jede Institution zu besuchen. Aber ich hoffe, all diese Institutionen besucht zu haben, bis die nächste Auflage erscheint.

Warum haben Sie sich Europa als Untersuchungsgegenstand ausgesucht?

Ich bin schon nach Europa gekommen bevor ich die Idee hatte den Contemporary Europe Art Guide zu machen. Vor vier Jahren bin ich nach Amsterdam gezogen, um an verschiedenen Projekten zu arbeiten. Während meiner Reisen entdeckte ich, dass es keinen Kunstführer gab, der mich direkt zu den Institutionen für zeitgenössische Kunst brachte. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Ressourcen, Webseiten wie artforum.com oder artnet, aber sie erfordern eine erhebliche Recherchearbeit. Doch es gab keinen gedruckten Führer. Also entschloss ich mich, die ganzen Informationen über Museen, Biennalen, Kunstmessen und zukünftige Projekte zu bündeln: Alle Ressourcen zwischen zwei Buchdeckeln, ohne dass die Leute vier, fünf Webseiten durchsuchen müssen oder die verschiedensten Reiseführer.

Das Buch ordnet sich nach Nationen. Welche Unterschiede haben Sie beim Vergleich der nationalen Kunstlandschaften festgestellt?

Gewaltige Unterschiede. Der größte Unterschied liegt zwischen den Staaten des früheren Ostblocks und den Staaten im Westen. Die osteuropäischen Staaten teilen ein ähnliches gemeinsames Erbe, sind jedoch von den kulturellen Hinterlassenschaften des Westens etwas abgeschieden. Im Osten gibt es einfach diesen Reichtum an kulturellen Institutionen nicht, den wir im Westen haben. Dort ist es auch ganz anders strukturiert. Und das wollte ich in den Griff bekommen, um diese Unterschiede zu verstehen. Denn ohne die Traditionen des Markts und Kapitalismus wurde das System Kunst in ganz eigener Art und Weise strukturiert: Indem sich der Markt und die traditionellen westlichen Modelle von Institutionen mischen, entstehen neue Strukturen, die sowohl marktwirtschaftlich funktionieren als auch ihren Status als staatlich finanzierte Einheiten bewahren.

Das Buch eröffnet kurioserweise mit einem »unbeschriebenen Blatt«: Albanien, für das keine Institutionen aufgelistet sind. Was benötigen Länder an der Peripherie, um künstlerisch in Erscheinung zu treten?

Zeit und Investitionen! Es geht darum, ob die Strukturen vor Ort die zeitgenössische Kunstszene ermutigen können. Kunst muss als etwas angesehen werden, das es zu wertschätzen gilt, als ein Investitionsgut für die Zukunft.

Gibt es denn dort überhaupt ein kunstinteressiertes Publikum? Oder wächst das Publikum erst mit den Institutionen für zeitgenössische Kunst?

Die östlichen Beitrittsländer zur EU haben das gewaltige Problem, dass alle professionell im Kunstbetrieb arbeitenden Leute und die Kunstinteressierten ihre Heimat in Richtung der etablierteren Kunstzentren im Westen verlassen. Berlin ist dafür das perfekte Beispiel, eine Stadt, die »Art Professionals« aus ganz Europa anzieht.

Sie selbst sind vor 15 Monaten nach Berlin gezogen, wie viele andere Kunstexperten, Künstler oder Künstlerinnen während der letzten Jahre. Wie würden Sie die augenblickliche Sonderstellung Berlins als Kunststadt beschreiben?

Berlin beansprucht gewiss die Aufmerksamkeit der Künstler und Künstlerinnen. Und die Kunstexperten folgen nun mal den Künstlern. Berlin hat eine reiche Infrastruktur für die Künste, und es sind die Leute da, die Kunst machen. Es gibt diese Aufgeregtheit oder Spannung hier, deshalb kommt jeder aus der Kunstwelt irgendwann zwangsläufig nach Berlin, von Künstlern über Kuratoren zu Sammlern. Es ist ein Schmelztiegel, sodass man manchmal glaubt, die gesamte Kunstgemeinde aus Brooklyn oder London sei schon hierher übergesiedelt. Berlin ist der Ort, wo die Künstler sind. Der Ort, wo ein großer Teil der Galeriewelt ist. Und das macht Berlin zu einem äußerst aufregenden Ort zu leben.

Ihr Kunstführer stellt Institutionen vor, die sie nach ihrer Qualität ausgewählt haben. Wie bewertet man die Qualität von Ausstellungen oder Sammlungen?

Das steht und fällt damit, ob die Institutionen sich dazu verpflichtet haben, sich in einem größeren Kunstkontext zu engagieren oder ob sie eher an einem Punkt innehalten. Es ist meine Hoffnung, dass mehr und mehr Institutionen sich bemühen werden, einen Dialog mit einer breiteren, künstlerischen Gemeinschaft zu beginnen. Und diese Institutionen wollen wir dann auch in die nächste Auflage des Art Guide mit aufnehmen.

Was planen sie noch für die nächste Ausgabe?

Ursprünglich war es die Idee alle zwei Jahre eine neue Ausgabe herauszubringen, denn die Informationen sind sehr zeitabhängig. So plane ich zum Beispiel eine Abteilung mit neuen Museumsprojekten, die aktualisiert werden muss, ebenso wie Kapitel über Biennalen und Kunstmessen.

Kommen wir noch einmal zurück zur Qualität. Was macht ein gutes Museum oder eine qualitativ hochwertige Institution aus?

In der Hauptsache geht es darum, dass sich das Personal und die Infrastruktur des Hauses für ein Engagement mit der breiten Kunstgemeinschaft einsetzen. Besonders in Deutschland finden sich solche engagierte Institutionen auf allen Ebenen: Das System der Kunstvereine in Deutschland ist sehr gut, etwa der Kölnische Kunstverein oder die Kunstvereine von Frankfurt und München. Dieses Engagement ist sehr typisch deutsch und unterscheidet Deutschland von der Mehrheit der europäischen Staaten. Es besteht einfach diese Ebene der gesellschaftlichen Verpflichtung und des Publikums, die man in anderen Ländern so nicht findet. Man bemerkt das auch in meinem Buch, Deutschland hat drei- oder viermal so viele Einträge wie andere Länder. Aber man sieht dieses Engagement auch beim Palais de Tokyo in Paris zum Beispiel oder bei der Tate in London und zahllosen anderen Beispielen quer durch Europa.

Ein Fokus in ihrem Buch liegt auf der Architektur der Institutionen. Wie wichtig ist die Museumsarchitektur?

Ein wichtiger Faktor ist die Art und Weise wie die Architektur mit der kuratorischen Vision korrespondiert, um Ausstellungen zu entwerfen, die sowohl visuell herausfordern als auch intellektuell. Die Architektur ist essenziell für das Erlebnis eines Museums. Ob es sich nun um eine renovierte Fabrik, einen Neubau durch einen weltberühmten Architekten oder ein neoklassizistisches Gebäude handelt, eigentlich geht es immer um dieselbe Sache: Wie präsentiert man zeitgenössische Kunst derart, dass ein Dialog gepflegt wird zwischen der Umgebung einerseits und den Werken innerhalb der Ausstellung andererseits.

Versuchen Sie sich die Institutionen unbeeinflusst anzusehen, also nicht als Kunstexperte?

Das ist gar nicht möglich. Sie kommen eben mit all den Vorurteilen und vorgefassten Ansichten in die Institution. Es ist schwierig, sich davon freizumachen. Außerdem war es wichtig für mich, den Kunstführer aus professioneller Perspektive zu schreiben, als jemand, der davon lebt. Es ist also kein Führer für Neulinge. Wer das braucht, sollte zum Rough Guide oder irgendeinem anderen Reiseführer greifen. Die Kunstrubriken in den Reisehandbüchern brachten mich erst dazu, den Contemporary European Art Guide zu schreiben.

Also ist es ein Buch für Profis, weniger für Einsteiger?

Nicht unbedingt. Ich habe das Buch für eine allgemeine Leserschaft geschrieben, aber ich wollte, dass es einen professionellen Blickpunkt einnimmt. Es existiert so ein weit gefächertes Publikum in Europa, das mit zeitgenössischer Kunst vertraut ist, von den Studenten der Kunstakademien über die Kunst-Aficionados bis zu den Experten.

Sie fokussieren ganz bewusst auf die sogenannten Non-Profit-Organisationen. Warum schließen Sie den gesamten Wirtschaftszweig der Galerien aus? Es erscheint mir schwierig, diese beiden tief miteinander verschränkten Bereiche zu trennen.

Wir haben hin- und herüberlegt, ob wir die Galerien mit hereinnehmen, aber zum Schluss habe ich mich dagegen entschieden, denn wo soll man die Grenze ziehen? In Berlin zum Beispiel gibt es mehrere Hundert Galerien. Wie wollen sie da unterscheiden, was Qualität ist und was nicht? Und als dann die Wirtschaftskrise über uns hereinbrach, war ich angesichts der weltweit vielen Galerienschließungen sehr glücklich über diese Entscheidung. Die Non-Profit-Organisationen garantieren eine gewisse Kontinuität. Sie garantieren dafür, dass sie ein Programm zumindest für die nächsten ein, zwei Jahre entwickelt haben. So konnte ich mir ziemlich sicher sein, dass die Institutionen wenigstens noch da sind, wenn das Buch erscheint.

Die Krise wird wahrscheinlich für Jahre einen starken Einfluss auf den Kunstmarkt nehmen. Was wird sich in den nächsten drei, vier, fünf Jahren verändert haben?

Schon während meiner Interviews, die ich während der letzten Jahre in den Museen führte, habe ich eine signifikante Veränderung festgestellt. Institutionen in ganz Europa haben weniger Geld zur Verfügung und drosseln ihre Programme. Diese Situation finden Sie länderübergreifend. Die Planung von neuen Museen wird noch viele Absagen, Verspätungen oder Baustopps erleben. Auf breiter Front ist eben sehr viel Geld verloren gegangen.

Besonders in den letzten zehn Jahren sahen sich die traditionellen Institutionen von Privatsammlern herausgefordert, die ihre Sammlungen voller Stolz in museumsähnlichen Gebäuden präsentieren, wie etwa der französische Luxus-Unternehmer François Pinault mit dem Palazzo Grassi und seinem neuen Flaggschiff Punta della Dogana in Venedig oder die Sammlung des deutschen Werbeprofis Christian Boros, die er in einem umgebauten Luftschutzbunker in Berlin präsentiert. Bereichert dieser Trend eher die Vielfalt des künstlerischen Angebots oder beschädigt er diese »alten« Institutionen?

Ich sehe das eher positiv. Sammler, die ihre Kunstwerke an einem öffentlichen Ort zeigen wollen, sind eine erfreuliche Entwicklung. Zugegeben, es geschieht aus der Situation heraus, dass eine Abkopplung zwischen privaten Sammlern und Museen stattgefunden hat, besonders in Deutschland. Jede deutsche Stadt scheint eine Schauergeschichte zwischen einem Privatsammler und einem Museum erlebt zu haben, mit dem Streit darüber, dass langjährige Leihgaben an das Museum wieder zurückgerufen wurden. Also entscheiden sich die Sammler eigene Wege zu gehen. Aber der kurzfristige Nutznießer dieser Situation ist jedenfalls das Publikum.

Also denken Sie, es ist besser wenn Privatsammler ihre eigenen privaten aber öffentlichen Museen eröffnen, als komplizierte Joint Ventures mit Institutionen einzugehen, wie etwa die Staatlichen Museen zu Berlin mit mächtig einflussreichen Sammlern wie Marx oder Flick?

Ich habe kein Problem damit, wenn Privatsammler es auf ihre eigene Art machen. Denn sobald Sammler sich in ein von der öffentlichen Hand finanziertes Museum einbringen, treten gewichtige Probleme auf den Plan. Privatsammler, die den Museen lästige Beschränkungen auferlegen oder solche, die plötzlich Werke wieder abziehen, um sie auf Auktionen zu verkaufen sind zutiefst beunruhigend.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen, welche Länder oder Städte werden auf der Bühne auftauchen ? jenseits von Nationen wie Deutschland oder Frankreich, die eine starke und hochwertige kulturelle Struktur aufweisen?

Von den früheren Ostblockstaaten ist besonders Polen gut aufgestellt. Dort gibt es einen Reichtum an Institutionen und ein sehr engagiertes Publikum, das mit der Kunst umgeht. Polen scheint in dieser Hinsicht ein bisschen die Führung zu übernehmen, denn andere östliche Länder haben es schwerer, die Ansprüche an die Präsentation zeitgenössischer Kunst zu gewährleisten.

Können Sie voraussehen, welche Stadt wohl der nächste Hot Spot sein könnte?

Der könnte noch weiter im Osten liegen. Etwa eine Stadt wie Kiew. Oder man schaut in die entgegengesetzte Richtung. Manche Leute nennen da Brüssel. Aber dafür müssen Sie schon die nächste Auflage des Contemporary Europe Art Guide abwarten.

veröffentlicht am 14.9.2009
Veröffentlicht am: 14.09.2009