JEFF WALL IM GESPRÄCH MIT MARTIN SCHWANDER

Jeff Wall hat seit den späten 1970er-Jahren maßgeblich zur Etablierung der Fotografie als eigenständiger Kunstform beigetragen. Er gilt als Begründer der »inszenierten« Fotografie: Seine Motive wirken zunächst wie Momentaufnahmen, doch bei seinen zumeist großformatigen, aus einer Vielzahl von Einzelaufnahmen vielschichtig und subtil komponierten Fotografien handelt es sich vorwiegend um vollständig konstruierte Bildwelten. Indem sein Werk Fotografie mit Elementen der Malerei, des Kinos und der Literatur verbindet – eine Vorgehensweise, die er selbst als »cinematografisch« bezeichnet – reinszeniert er in einem aufwändigen Prozess fiktive Realitäten, Erinnerungen an Erlebtes und Gesehenes.

Im Gespräch mit dem Kurator Martin Schwander spricht Jeff Wall über Schönheit, Moral und seinen persönlichen künstlerischen Stil.

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Martin Schwander: Ist die ästhetische Kategorie der Schönheit für deine Arbeit relevant?

Jeff Wall: Ja, ich habe von allem Anfang an gesagt, dass ich immer schöne Bilder im konventionellsten Sinn des Wortes machen wollte. »Schönheit« bedeutet jedoch etwas ziemlich Kompliziertes. Wenn wir das Wort verwenden, meinen wir nicht hübsche, gut designte oder gefällige Dinge. Wir meinen eine Art von Kohärenz in einem Kunstwerk, die das Auge und den Verstand hochgradig befriedigt, die aufregend zu betrachten und zu erleben ist und die aufgeladen ist mit Energien wie auch Bedeutungen, die wir nicht unbedingt verstehen. Kunsterfahrung ist immer die Erfahrung der Güte des Werks, seiner Qualität, der Qualität seiner Kunstfertigkeit, seiner Komposition und seiner Konzeption. »Schönheit« ist das Ergebnis des Niveaus an Kunstfertigkeit.

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MS: Hat Kunst einen moralischen Zweck?

JW: Das Unmoralischste, was Künstlerinnen und Künstler tun können, ist, wissentlich etwas künstlerisch Minderwertiges zu schaffen, weil dies für gewöhnlich bedeutet, Kompromisse mit Werten außerhalb des künstlerischen Prozesses einzugehen. Die beste Arbeit zu vollbringen, die man kann, ist daher an sich eine moralische und ethische Haltung. Und das hat damit zu tun, so frei, verständig, kompetent, verantwortungsvoll, imaginativ und energisch zu handeln, wie man kann – nicht weniger als das. Daher kann dies – wie ich gerade sagte – hinsichtlich dessen, wie man sich in der Welt verhält, als Modell für andere Tätigkeiten dienen. Dies ist einmal mehr eine sehr alte Idee: dass künstlerische, kreative Arbeit den Menschen ermöglicht, ihre Ziele auf eine emanzipierte Weise zu verwirklichen, die dafür nützlich sein könnte, zu verstehen, wie andere Dinge zu tun wären. Und daher wohnt ihr, auf diese Weise, ein Wert an sich inne. Diese ethische Haltung ist demnach wichtig und kann von der Kunst losgelöst und auf andere Zwecke angewandt werden. Bedeutet dies, dass du nie versucht warst, sagen wir, »engagierte Kunst« zu machen, besonders in deiner frühen Schaffenszeit? Ein bisschen schon, aber bereits in den 1970er-Jahren sah ich allmählich die Grenzen dieser Richtung. Ich hatte den Eindruck, dass diese Grenzen in mancherlei Hinsicht in Beziehung zu den Problemen standen, die ich auch in den postkonzeptuellen Formen zu erkennen meinte. Auf welche Probleme ich bei der engagierten Kunst traf, habe ich, glaube ich, schon in meiner Antwort auf deine Frage zur autonomen Kunst umrissen. Künstler:innen, die glaubten, allein schon die Formen traditioneller Kunst seien ein Hindernis für jedmögliche positive bewusstseinsbildende oder emanzipatorische Wirkungsweisen, haben sich dem Begriff der autonomen Kunst durchweg entgegengestellt, aus dem offensichtlichen Grund, dass sie die Kunst spezifischen Programmen und Zielen unterwerfen wollen, die sie für wichtiger halten als alle »rein künstlerischen« Erwägungen oder Werte.

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MS: Auf deine beinahe 200 Bilder zurückblickend, stellt man fest, dass du, anders als viele Künstlerinnen und Künstler deiner und nachfolgender Generationen, die im Medium der Fotografie arbeiten, keinen leicht erkennbaren Stil – eine Art »Signature Style« – entwickelt hast. Was macht in deinen Augen die Einheit deines Werkes aus?

JW: Da die Linse nur einen »Stil« hat, muss alles Distinktive von etwas anderem kommen. Und das heißt im Grunde von »allem anderen«! Der »Stil« als solcher zählt zu den schwer fassbaren Begriffen. Greifbarer ist er in den anderen Künsten; uns erschließt sich der Stil Vincent van Goghs oder Constantin Brâncușis. Das hat mit der autografischen Anmutung zu tun. In der Fotografie entspringt dieser Effekt offenbar dem Sichaneignen verschiedener Routinen – spezifischer Arten und Weisen, grundlegende Dinge zu tun. Hilla und Bernd Becher sind dafür ein offensichtliches Beispiel. Sie wollten, dass ihre Bilder einander ähnelten, und entwickelten eine Methode, dies zu verwirklichen. Ich will, dass meine Bilder einander nicht groß ähneln, und zwar auf jeder Ebene. Wahrscheinlich habe ich einen bestimmten kompositorischen Stil. Wahrscheinlich habe ich einen wiedererkennbaren Look, aber worin er eigentlich besteht, lässt sich nur schwer auf den Punkt bringen. Da gibt es den Aspekt des Objektiven, über den wir schon sprachen, den ich unbedingt in meinen Bildern bewahren möchte. Wenn es zum Beispiel in dem Bereich, den ich fotografiere, ein anormales Element gibt, werde ich es beibehalten und nicht versuchen, es auszublenden oder irgendwie zu beseitigen; ich werde versuchen, bestimmte Störmomente in die Komposition einzubauen. Zu dem, was mein Stil sein könnte, zählt vielleicht ein geradezu stark ausgeprägter Sinn für Harmonie, der im Prinzip auch ein alltägliches Durcheinander einschließt. Ich beziehe gerne Dinge ein, die nicht leicht oder zwingenderweise harmonieren. Ich finde gerne den richtigen Platz für meine Kamera, sodass eine höchst wohlkomponierte Ansicht entsteht; aber von diesem richtigen Platz muss für gewöhnlich eine Reihe ablenkender Zufallselemente zu sehen sein, ohne die die Komposition für sich genommen besser sein könnte. Wenn sie einmal darin eingefügt sind, erweist sich aber immer, dass die Komposition – und das Bild überhaupt – mit ihnen besser ist. Wie ich sagte, ich möchte wirklich nicht, dass meine Bilder einander ähneln. Aber wenn ich sie zusammen in Ausstellungen sehe, scheinen sie es zu tun. Und ich kann nicht sagen, wie oder warum.

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Das ungekürzte Interview finden Sie in unserer Publikation Jeff Wall.

Unter den mehr als fünfzig im Katalog zur großangelegten Einzelausstellung in der Fondation Beyeler versammelten Werken finden sich sowohl Walls ikonische Großbilddiapositive in Leuchtkästen als auch schwarz-weiß Fotografien und farbige Fotodrucke. Diese neueren, die gesamte Bandbreite seines Schaffens repräsentierenden Bilder treten dabei in einen Dialog mit Arbeiten aus der Zeit von Walls künstlerischen Anfängen und offenbaren vielfältige inhaltliche und formale Bezüge.

Jeff Wall | Hatje Cantz VerlagEine Übersicht über aktuelle Veranstaltungen mit Jeff Wall finden Sie in diesem Beitrag auf unserer Seite

Veröffentlicht am: 09.02.2024