INTERVIEW MIT YOSHITOMO NARA

Yoshitomo Nara, geboren 1959 in Hirosaki, Japan, gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Künstlern der Gegenwart. Berühmt wurde er durch seine ikonischen Angry Girls – stilisierte Mädchenfiguren mit übergroßen Köpfen und ausdrucksstarken Augen, die sowohl Wut als auch Melancholie ausstrahlen. Nara verbindet in seinen Arbeiten oft Kindlichkeit mit einer rebellischen, manchmal düsteren Haltung. Der Katalog Yoshitomo Nara bietet einen tiefen Einblick in sein Schaffen über vier Jahrzehnten und zeigt, wie sich seine Bildsprache im Laufe der Jahre entwickelt hat. Dabei lässt sich erkennen, wie persönliche Erinnerungen, kulturelle Einflüsse und eine starke emotionale Tiefe seine Werke prägen. 

Im Interview mit Hatje Cantz spricht Nara über sein künstlerisches Schaffen, seine Einflüsse und die besondere Bedeutung seiner Aufenthalte in Deutschland.

Hatje Cantz: Herr Nara, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ausstellung in Baden-Baden! Sie haben ja in Deutschland studiert und viele Jahre hier gelebt. Auch auf einigen Ihrer neuen Werke finden sich deutsche Titel. Hat dieses Land für Sie immer noch eine besondere Bedeutung, besonders jetzt, wo Ihre Werke erstmals in einer großen Einzelausstellung hier präsentiert werden? 

Yoshitomo Nara: Ich habe zwölf Jahre in Deutschland gelebt. Das Land ist für mich persönlich, aber auch objektiv betrachtet ein besonderer Ort. Sowohl die sechs Jahre, die ich hier studiert habe, als auch die sechs Jahre, die ich nach meinem Abschluss als Künstler hier verbracht habe, waren etwas Besonderes. Aus Deutschland gesehen liegt Japan im Fernen Osten und hat eine ganz andere Geschichte, natürlich sieht auch der Alltag ganz anders aus. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit in beiden Ländern erweckte in mir allerdings eine Vertrautheit. Wenn es um das Schaffen und Ausstellen meiner Arbeiten geht, sieht es jedoch etwas anders aus. Meine Kunst, von einem typischen Japaner geschaffen, der nach dem Krieg unter dem starken Einfluss der amerikanischen Kultur aufgewachsen ist, wurde global in den USA zum ersten Mal wahrgenommen. Obwohl meine Werke seit meiner Studienzeit von Gleichaltrigen oder jüngeren Freunden gut aufgenommen wurden, hatte ich nicht das Gefühl, dass sie von der allgemeinen deutschen Kritik und den Kunstliebhabern verstanden wurden. An manchen Tagen grübelte ich sogar, ob die Leute denken könnten, es handele sich um eine Art vulgäre Kunst, oder dass ich ein Idiot sei, der nicht mal richtig sprechen könne. Es freut mich allerdings, dass ich hier die Chance auf eine Ausstellung erhalten habe, dass meine Originalwerke gesehen werden, dass die Menschen direkt spüren können, was ein gedrucktes Bild oder ein Computerbildschirm nicht vermitteln können. Ich freue mich sehr zu hören, dass die Ausstellung gut angenommen wird und von vielen Menschen aller Altersgruppen und Geschlechter besucht wird. Viele der Werke in dieser Ausstellung sind während meines Aufenthalts in Deutschland von 1988 bis Herbst 2000 entstanden, was wirklich sehr bewegend ist. Ich würde gerne meine Werke fragen, wie es ist, einen gewaltigen Umweg gemacht zu haben und nun an ihren Geburtsort zurückzukehren. 

HC: Ihre Kunst vereint eine Vielzahl kultureller Einflüsse – ich erkenne dort Anspielungen auf die japanische Kunsttradition, Mangas, aber auch die amerikanische Popkultur. Wie gelingt es Ihnen, diese unterschiedlichen Welten miteinander in Einklang zu bringen? 

YN: Ich habe es nicht bewusst so wahrgenommen, aber in den 60er und 70er Jahren in Japan – die Zeit, in der ich erwachsen wurde – haben die Verliererstaaten sich auf ihre wirtschaftliche Entwicklung konzentriert, um mit dem Rest der Welt mithalten zu können. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung hatte der Zustrom von Informationen aus der ganzen Welt, insbesondere der Popkultur aus den USA, einen großen Einfluss auf mich. Ich lebte auf dem Land, umgeben von Apfelplantagen, aber ich hörte nur amerikanische und britische Folk- und Rockmusik, die über die Radiolautsprecher gespielt wurden. In mir gab es erst Musik, dann Kunst. Ich glaube, dass der Grundstein für meine Weltanschauung insbesondere durch die Radiowellen gelegt wurde, die jeden Ort gleichmäßig erreichen. Außerdem hatten die Nachrichtenfotos und -filme aus dem Vietnamkrieg, die damals zum ersten Mal von normalen Kameras aufgenommen wurden, einen größeren Einfluss auf mich als die Satellitenübertragung der Mondlandung der USA. Es gibt auch Texte, die auf den Einfluss von Manga und Anime hinweisen, was meiner Meinung nach für alle Kinder dieser Generation gilt. Sollte ich eine andere Perspektive als die anderen Kinder haben, dann kommt diese von den Nachrichtenfotografen, die ohne zeitlichen Verzug über den Vietnamkrieg berichtet haben und von der Antikriegs-Folk- und Rockmusik.

HC: In vielen Ihrer Arbeiten begegnen wir den Angry Girls, die gleichzeitig kindliche Unschuld und eine rebellische, düstere Haltung verkörpern. Was treibt diese Figuren an?

YN: Das weiß ich nicht. (lacht) Wenn ich verbalisieren könnte, was sie antreibt, würde ich wohl nicht solche Bilder malen. Ich denke, dass die zwölf Jahre in Deutschland und die Tatsache, dass ich nicht so gut Deutsch spreche, wie ich es gerne würde, und dass ich meine Absichten anderen nicht in Worten mitteilen kann, zu meiner bildlichen Ausdrucksweise geführt haben.

HC: Was bedeutet der künstlerische Schaffensprozess für Sie? Ist Kunst für Sie eine strukturierte Arbeit, die auf klaren Vorstellungen beruht, oder eher ein kreatives Spiel, das mehr dem kindlichen Experimentieren gleicht?    

YN: Es ist eher Letzteres, aber vielleicht ist es eher so, dass die Fantasie in den Gefühlen eines Kindes mit einer Kreativität ausdrückt wird, die das Kind selbst nicht vermag ...

HC: Neben Ausstellungen weltweit sind Ihre Werke auch in Katalogen und Kunstbüchern dokumentiert. Sehen Sie das Buch als eine Möglichkeit, Ihre Kunst auf eine neue Weise zu vermitteln?    

YN: Als neue Möglichkeit habe ich das noch nie gesehen! (lacht) Mit dem steigenden Geldwert der Werke wuchs auch die Zahl der wohlhabenden Menschen, die sie als Anlageobjekte kauften. Auf den ersten Blick scheint es, als ob der Markt den Wert eines Werks für Kunstliebhaber angibt, aber oft schlummern die Werke in den Lagern derjenigen, die sie erworben haben. Das ist weit entfernt von dem, was ich mir wünsche. Ich respektiere diejenigen, die die Werke in ihren Häusern ausstellen oder sie an Museen spenden, aber ich überlege mir, wie sie „andere Menschen“ erreichen können, die die Werke wirklich mögen. Ich stelle viele Kunstbücher und Merchandising-Artikel her, weil ich möchte, dass meine Kunst für junge Leute und Kunstliebhaber, die meine Arbeit mögen, leicht zugänglich ist. Es steht jedem frei, sein Lieblingskunstwerk durch ein gedrucktes Bild im Herzen zu tragen. Und ich hoffe, dass sie eines Tages das Originalwerk sehen werden.

Yoshitomo Nara | Hatje Cantz Verlag

Das Interview mit Yoshitomo Nara führte László Rupp im Januar 2025. Jasmin Dose übersetzte das Interview aus dem Japanischen.


Headerbild Yoshitomo Nara © Nikolay Kazakov

Veröffentlicht am: 04.03.2025