INTERVIEW MIT ULRICH SEIDL

»Das Drehen ist ein Prozess, in dem ich mich nicht daran klammere, was im Buch steht.«

Der Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Ulrich Seidl in einem Interview mit dem Journalisten Thomas Hummitzsch über seine neue Filmtrilogie »Liebe, Glaube, Hoffnung«.

Herr Seidl, der zweite Teil ihrer Film-Trilogie endet mit einem Choral, in dem »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig, ist der Menschen Leben« gesungen wird. Wenn das Leben nichtig ist, warum dann gleich eine Trilogie über das menschliche Dasein?

Das eine schließt das andere nicht aus. Hinter der Liedzeile steckt die Weisheit, dass das Leben sehr kurz ist. Viele Dinge, die man im Leben macht, sind aufgrund der Kürze und der Sinnhaftigkeit des Lebens sinnlos. Aber trotzdem kämpft man, ich zumindest, ununterbrochen damit, Wahrheiten zu thematisieren. Das mache ich auch mit meinen Filmen. Diese Wahrheiten will ich im Kontext von Veränderung zum Thema machen. Dabei versuche ich stets auch über die Würde des einzelnen Menschen oder seine Vereinsamung zu sprechen.

Alle drei Filme sind erzählerisch eigenständig und bedingen einander nicht. Ist es Ihnen überhaupt Recht, wenn von einer Trilogie die Rede ist?

Natürlich, das war ja meine Entscheidung. Die Wirkung der Trilogie wird vor allem dann deutlich, wenn man alle Teile in einem Block anschaut (Auf der Berlinale war das erstmals möglich, A.d.A.). Dann tritt eine größere Komplexität zu Tage, die bei den Einzelfilmen noch nicht sichtbar wird. Zwar funktioniert jeder Film für sich allein, aber wenn man sie sich hintereinander anschaut, dann werden beim Zuschauer noch andere Emotionen entstehen. Mehr Verbindungen zwischen den Frauen und ihren Geschichten werden bewusst, so dass ein anderes Kinoerleben eintritt.

Aus ihren 16mm-Kadern großformatige Fotografien zu machen, war schon immer ein lang gehegter Traum von Ihnen. Sind Sie zufrieden mit dem Bildband »Liebe, Glaube, Hoffnung«?

Ja, ich habe in den letzten Monaten intensiv an dem Buch mitgearbeitet und freue mich, dass sowohl die Ausstellung in der C|O Galerie als auch das Buch geglückt sind.

War dies ihre erste Erfahrung der technischen Umwandlung von Filmmaterial zur Fotografie?

Nein, der Bildband hat eine Vorgeschichte. Im letzten Jahr etwa habe ich ein Plakat für die Wiener Festwochen aus einem 16mm-Kader gestaltet. Auch die Plakate zu den jeweiligen Filmen wurden schon immer aus den Filmkadern herauskopiert. Ich habe nie Filmstills im klassischen Sinn verwendet, sondern immer direkt aus dem Film herauskopierte Pressefotos verwendet.

Beim Betrachten des Bildbands fällt noch stärker als beim Sehen ihrer Filme die klare Struktur der »Seidl-Tableaus« ins Auge. Alles ist in oder um das Zentrum herum angeordnet. Wollen Sie ein System zeigen?

Nein, das nicht. Diese Struktur entspricht meinem Blick auf die Welt. Der Raum und die Beziehung des Menschen zum Raum, in dem der Mensch nichtig und klein ist, ist überaus wichtig. Die Zentralperspektive, die ich sehr oft verwende, ist von mir aber nie geplant im Sinn einer Theorie oder eines bestimmten Vorhabens. Sie hat sich im Laufe meiner Arbeit einfach ergeben. Sie entspricht dem Blick, den ich habe und der schon irgendwoher gekommen sein wird. Einige sagen, dieser Blick käme von der christlichen Ikonografie, von Altarbildern. Womöglich.

Ihre Protagonisten stehen also im sichtbaren Raum, weil der Mensch nicht allein existiert?

Der Raum ist wichtig, weil er immer noch etwas hinzufügt. Jeder Raum, in dem ein Mensch lebt, sagt immer noch etwas Zusätzliches über diesen Menschen aus.

Sie schreiben ihre Drehbücher nur szenisch, die Dialoge erarbeiten Sie mit den Schauspielern im Prozess. Wie vereinbaren Sie die Notwendigkeit der Improvisation bei dieser Arbeit – vor allem mit Laienschauspierlern – mit ihrem Anspruch, ihre Figuren auch immer in einem klar strukturierten Rahmen aktiv werden zu lassen?

Die Struktur hat mit den Laienschauspielern gar nichts zu tun. Ich arbeite mit Laien und mit Schauspielern zusammen, und es hat einen Grund, dass ich das tue. Laien sind mindestens so gut wie Schauspieler, da gibt es keinen Unterschied in der Inszenierung. Ich habe schon immer den Versuch gemacht, Bilder genau zu kadrieren und einzurichten, die Dinge quasi zurechtzurücken. Trotzdem ist es möglich, Schauspieler – egal ob professionell oder nicht – darin spielen zu lassen. Wenn sie beispielsweise Bilder haben, wo zwei oder vier Frauen miteinander sprechen, wie zum Beispiel bei »Paradies: Liebe«, dann ist diese Szene exakt eingerichtet. In diesem arrangierten Bild können die Damen frei reden. Beides ergänzt sich und die Szene wird, trotz der Künstlichkeit, dann auch dokumentarisch – weil die Frauen selbst natürlich agieren und die Sprache, die sie sprechen, eine natürliche ist.

Die Mischung aus Inszeniertem und Dokumentarischem macht die magische Anziehungskraft der Seidl-Filme aus. In welchem Größenverhältnis stehen Inszenierung und Dokumentation?

Alles ist inszeniert, selbst der reine Dokumentarfilm. Sobald man eine Kamera in die Hand nimmt und einschaltet, trifft man eine Entscheidung darüber, was und wie viel die Kamera aufnimmt und wann man sie wieder ausmacht? Filmen ist ein ununterbrochener Prozess, in dem man über Dinge entscheidet. Aber ich verstehe Dokumentarfilm nicht so, als wäre ich nicht dabei, sondern ich verstärke meine Mittel. Ich versuche trotz des Dokumentarischen bewusst visuell zu gestalten.

Halten sie sich bei den Dreharbeiten streng an ihr Skript oder lassen sie sich vom Prozess mitreißen?

Das Skript ist für mich wie ein Leitfaden, den ich jederzeit verändern kann, wenn ich will. Und nachdem ich das gefilmte Material und die Szenen chronologisch umgesetzt habe, kann ich mich mit den Ergebnissen hierhin und dahin bewegen. Oder ich kann Dinge, die ich mir irgendwann einmal ausgedacht habe, verwerfen. Und jeder Schauplatz gibt mir wieder neue Ideen. Das Drehen ist ein Prozess, in dem ich mich nicht daran klammere, was im Buch steht.

In ihrem Dreiklang »Liebe, Glaube, Hoffnung« klingt das Hohelied der Liebe an, das Tryptichon erinnert an Flügelaltäre und bei der Drei ist die Dreifaltigkeit nicht fern. Welche Rolle hat ihre religiöse Sozialisation beim Schreiben des Drehbuchs gespielt.

Zunächst einmal gar keine. Der Grundgedanke war nicht, eine Film über Glaube, Liebe und Hoffnung zu machen. Ich wollte einen Film über drei Frauen machen, mit dem Paradies-Titel – das war ja der ursprüngliche Titel – als Sehnsuchtsort. Drei Frauen, die auf der Suche nach ihrem Paradies sind, mit sehr unterschiedlichen Geschichten und Wegen. Und erst als sich herausgestellt hat, dass es nicht nur ein Film, sondern drei werden, kamen die Fragen. Erstens: In welcher Reihenfolge schaut man die Filme an? Und zweitens: Welche Titel bekommen sie? Eines Tages war dann der Titel »Liebe, Glaube, Hoffnung« da. Der gefiel mir sofort, weil diese Begriffe in unserer christlichen Kultur tief verankert sind. Österreichspezifisch kann man noch hinzufügen, dass es auch ein gleichnamiges Stück von Ödön von Horváth gibt. Die Begriffe kann man außerdem untereinander austauschen, denn wo es Liebe gibt, gibt es auch Hoffnung und Glaube.

Das Paradies löst die Assoziation des Sündenfalls aus. In all ihren Filmen geht es auch um – mehr oder minder »verbotenen« – Sex. Ist Sexualität heute tatsächlich noch Sünde?

Nein, und so wird es von mir auch nicht gemeint. Ganz im Gegenteil. Ich bin der Meinung, dass Sexualität eine wichtige Rolle spielt und sie sehr oft das Schicksal oder den Weg eines Menschen bestimmt. Das sieht man auch in meinen Filmen. Teresa in »Paradies: Liebe« sucht Sexualität. Und sie sucht sie in Kenia, weil sie diese Sexualität hier offensichtlich nicht mehr in der Art und Weise bekommt, wie sie sie haben möchte. Anna Maria in dem Film »Paradies: Glaube« sucht Sexualität in der Weise, dass sie sich so derartig in ihre Liebe zu Jesus hineinsteigert, dass diese sogar körperlich wird. Also es geht hier auch um Körperlichkeit. Nicht zuletzt spielt Sexualität bei mir auch deshalb immer eine Rolle, weil sie die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern bestimmt.

In »Paradies: Liebe« erzählen Sie nicht nur die Geschichte der Sextouristin Teresa, mit der Sie unser Bild, wer über wen Macht ausübt, auf den Kopf stellen, sondern erzählen – ähnlich wie in ihrem Film »Import/Export« – eine Parabel auf die globalen Wirtschafts- und Machtverhältnisse?

Genau so ist es. Deshalb hatte ich auch Afrika als Schauplatz ausgesucht, weil ich dort in der gemeinsamen Vergangenheit von Europa und Afrika genau das gefunden habe, was diese zusätzliche Ebene einzieht. Die Kolonialgeschichte lebt ja immer noch weiter, nur in einer anderen Form, wie der Film auch zeigt.

Inwiefern war es eine Herausforderung, mit den Afrikanern diese postkoloniale Wirklichkeit, die zugleich wieder kolonial ist, zu reinszenieren?

Ich habe in den vergangenen Jahren im Zuge dieser Arbeit viel Zeit mit Schwarzen verbracht und viele Schwarze kennengelernt. Wenn ich jetzt nach Kenia fahre, stehen sie alle wieder da und wollen Geld von mir haben. Sie gehen davon aus, dass der Weiße, der da kommt, Geld hat. Sie sind außerdem der Meinung, dass Europa und die Europäer aus der Vergangenheit heraus Schuld sind an ihrem Schicksal – was auch nicht ganz falsch ist. Aber man entkommt dem auch nicht, in welcher Rolle man auch immer ist. Wenn man in Afrika als Weißer irgendwo hingeht, ist man immer einer von denen, dessen Geld man haben möchte.

Ihr zweiter Film »Paradies: Glaube« wurde bei den Filmfestspielen in Venedig von katholischen Hardlinern als blasphemisch skandalisiert. Fühlten sie sich missverstanden?

Missverstanden habe ich mich nicht gefühlt, aber ich habe natürlich sofort entgegnet, dass das keine Blasphemie ist. Blasphemisch ist es, wenn man bewusste Gotteslästerung betreibt oder sich bewusst über Gläubige lustig macht. Aber das mache ich nicht. Ich zeige in einem Spielfilm eine Situation, die im Sinne dieser Figur und der Erzählung völlig richtig ist. Auch wenn das gewisse Christen nicht sehen wollen, ist das, was ich zeige, eine Wahrheit.

Die zerbrechlichste und verletzlichste Person in allen drei Filmen ist die Heranwachsende Melanie in »Paradies: Hoffnung«. Im Gegensatz zu den anderen beiden Hauptdarstellerinnen Margarethe Tiesel und Maria Hofstätter ist Melanie Lenz keine professionelle Schauspielerin. Wie war die Zusammenarbeit mit ihr?

Wenn man mit einem 13-jährigen Mädchen zusammenarbeitet, muss man sich bewusst machen, dass man aus diesem Mädchen nicht soviel herausholen kann wie bei der Arbeit mit einem erwachsenen Menschen. Es ist wenig, was einem entgegengebracht wird, was da aus der Person selbst heraus kommt. Also habe ich das verwendet, was sie anbieten konnte, was ohnehin da war. Dann redet man über den ersten Kuss, über erste sexuelle Erfahrungen und solche Dinge. Die Zusammenarbeit war natürlich auch mit mehr Vorsicht verbunden, um sie zu schützen. Sie ist ja noch ein Kind. Da war mir von Anfang an auch klar, dass ich einen anderen Zugang nehmen muss. Aber die Arbeit am Set, das Prozesshafte, war mit Melanie Lenz nicht anders als bei Margarethe Tiesel oder Maria Hofstätter.

Für den Film haben sie ein echtes Diät-Camp veranstaltet. Wie muss man sich das vorstellen?

Wir haben die Kinder wie in einem Camp organisiert. Es gab Pädagogen und Sportbetreuer, die die Kinder betreut haben. Es gab eine Diät-Küche, einen festen Tagesablauf, gemeinsame Unterkünfte für die Kinder. Das wurde tagtäglich organisiert. Die Dreharbeiten fanden vor Ort statt und wir konnten auf die Kinder bei Bedarf zurückgreifen, während die anderen beschäftigt waren.

Sie rütteln mit der Paradies-Trilogie auch an den gängigen Schönheitsidealen. Was sagt das konformistische Schönheitsbild über unsere Gesellschaften?

Dieses Bild ist ein verordnetes Bild, das wir hinterfragen müssen und dessen mediales Diktat wir nicht akzeptieren können. Die Frauen, die diesem Bild nicht entsprechen, stehen unter einem enormen Druck und Zwang. Sie haben ein Problem. Die Frage an uns als Gesellschaft lautet: »Warum lassen wir das zu?« Schönheitsbilder verändern sich natürlich auch permanent und sind kulturell bedingt. Margarethe Tiesel ist in Afrika eine schöne Frau, hier ist sie fett. Wenn man sich die Frauenbilder der letzten Jahrzehnte anschaut, dann stellt man fest, dass sie sich enorm verändert haben. Der Schlankheitswahn hat sich irgendwann in den 1970ern entwickelt. Vorher haben Frauen anders ausgesehen.

Ich meine, der Schlankheitswahn ist mit den Kriterien des kapitalistischen Marktes verbunden. Es geht doch um das Sich-Verkaufen-Können, um die Attraktivität des Produktes Körper.

Dünn zu sein heißt ja nicht zugleich, attraktiv zu sein, sondern lediglich, diesem verordneten Schönheitsideal zu entsprechen. Ich frage mich immer, warum es so etwas überhaupt gibt oder warum man sich davon nicht lösen kann. Dieses Schönheitsideal schafft natürlich wiederum Einsamkeit, denn Menschen, die dem nicht entsprechen, haben ein Problem.

Mit den drei Filmen Ihrer Trilogie waren Sie innerhalb eines Jahres auf die drei großen europäischen Filmfestivals in Cannes, Venedig und Berlin eingeladen. Was bedeutet Ihnen dieser Erfolg?

Es ist großartig zu sehen, welche Breitenwirkung und mediale Aufmerksamkeit damit erreicht werden konnte. Das trägt auch dazu bei, möglichst viele Zuschauer europaweit ins Kino zu bekommen. Erfolg bedeutet auch immer eine Bestätigung der eigenen Arbeit und des langen Weges, den ich mit meinen Mitarbeitern und Schauspielern für diese »Paradiese« gegangen bin.