INTERVIEW MIT MAXIME BALLESTEROS

Wachsam wie ein Jäger streift er mit seiner analogen Kamera durch die Nacht: Maxime Ballesteros. Er ist kein Voyeur wilder Partys, in denen die sexuelle Begierde an ihren Höhepunkt gelangt, sondern ein stiller Beobachter einer Welt, in der sich Grenzen auflösen und eine subjektive Realität zutage tritt.


Für die französische Modezeitschrift L'Officiel hat unser Programmberaterin für Fotografie Nadine Barth mit Ballesteros über seine Arbeit gesprochen. In Auszügen wurde es dort abgedruckt. Hier können Sie nun das komplette Interview lesen.

Nadine Barth: Man sieht dich meist mit der Kamera in der Hand. Hast du das Gefühl, dass du das, was geschieht, dokumentieren musst?

Maxime Ballesteros: Ich trage ständig eine Kamera mit mir herum. Und mache so gut wie jeden Tag Fotos. Was in der heutigen Instagram-Welt wahrscheinlich recht banal ist. Doch es ist weniger das Bedürfnis, alles zu dokumentieren, als das Bedürfnis, bereit zu sein, wenn ich etwas sehe. Ich habe als Teenager angefangen, Fotos zu machen, nachdem ich erkannte, dass mein Gehirn begonnen hatte, den Großteil meiner Erinnerungen auszulöschen, worüber ich keinerlei Kontrolle hatte. Mit der Zeit entwickelte es sich zu etwas anderem, und das reizt mich mehr, als das Aufrechterhalten der Erinnerung; aber die Erleichterung – jedes Mal wenn ich den Auslöser betätige – ist immer noch vorhanden.

NB: Wie nahe kommst du den Menschen?

MB: Auch wenn es natürlich für das Leben im Allgemeinen gilt, so wird man in der Fotografie doch permanent daran erinnert, niemals jemanden nur nach seinem Äußeren zu beurteilen. Jeder stellt sich selbst auf eine gewisse Art und Weise dar, es ist aber auch dein Job, herauszufinden, wie dick diese Fassade ist, wenn sie nicht sogar bereits durchscheinend ist. Ich brauche irgendeine Art von Verbindung, wenn es auch nur ein winzig kleiner Funke ist, irgendetwas – ansonsten habe ich das Gefühl, gegen eine Wand zu rennen. Bei meiner Arbeitsmethode kann das genauso gut für Gegenstände oder Stillleben gelten. Einige von ihnen habe ich, glaube ich, sehr vermenschlicht. Egal ob Mensch oder Gegenstand, ich bin dem, was ich fotografiere, gerne sehr nahe. Im buchstäblichen Sinn, also physisch. Ich verwende erstklassige Linsen, für gewöhnlich Weitwinkel. Auch wenn es heutzutage kaum sinnvoll erscheint, habe ich mich in meiner Arbeit stets an klare Regeln gehalten. Verwende niemals einen Zoom; wenn du näher ran musst, dann setze deinen Körper ein. Ein Bild niemals neu ausrichten oder beschneiden. Wenn es so, wie du es ursprünglich aufgenommen hast, nicht funktioniert, dann musst du es besser anvisieren und vorausplanen. Und mach niemals zwei Aufnahmen derselben Sache.

NB: Was bedeutet Realität für dich?

MB: Das ist eine sehr schwierige Frage, da es möglicherweise genau der Grund ist, aus dem ich fotografiere. Ich glaube, dass ich immer noch auf der Suche nach ihrer Bedeutung und ihren Interpretationsmöglichkeiten bin.
Ich mache Schnappschüsse und inszenierte Aufnahmen auf die gleiche Art und Weise. Wenn ich zum Beispiel auf der Straße fotografiere, dann rahme ich einen kleinen Teil der Welt ein, vielleicht benutze ich einen Blitz, der die Aufnahme verändert und somit eine Interpretation der Realität darstellt. Wenn ich jedoch eine, recht unverstellte, Aufnahme inszeniere, dann wird auch diese lebendig, wird Teil meiner Realität. Gleichermaßen lebt und teilt auch die nächtliche Welt, die Welt unserer Träume und Albträume, unser Gehirn mit jener Welt, die wir mit offenen Augen erleben.

NB: Du hast mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen begonnen und die Dunkelkammer der Schule genutzt. Was war zu jener Zeit wichtig?

MB: Damals, ganz am Anfang, war es mir vor allem wichtig, alleine Zeit in der Dunkelkammer zu verbringen. Ich habe so gut wie alles fotografiert, nur um Bilder zu haben, die ich entwickeln konnte. Der Geruch der Chemikalien, die Ungestörtheit, der gesamte Prozess haben mich fasziniert. Es war ein Ort, an dem ich mich immer gut gefühlt habe. Ich habe das acht Jahre lang gemacht und recht viel mit der Technik und mit Fotografie experimentiert. In meinen letzten Schwarz-Weiß-Jahren, als ich mir schließlich einen Blitz zugelegt hatte, wurde es dann richtig lustig. Es war sehr befreiend, ich wurde so viel freier und so viele neue Horizonte haben sich mir eröffnet. Ich fühlte mich, als könnte ich alles ablichten, es einfrieren. Ich musste nicht mehr überall, wo ich hinging, ein Stativ mitnehmen. Auch die Lichtempfindlichkeit und Blendenzahl meiner Kamera musste ich nun nicht mehr ständig verändern.
Eines Tages, vor etwa neun Jahren, nachdem ich nach Berlin gezogen war, kaufte ich jedoch online eine billige Kamera, die mit einem Farbfilm geliefert wurde. Ich hatte nie zuvor darüber nachgedacht, auch in Farbe zu fotografieren, oder vielleicht hatte ich einfach nur Angst davor. Aber ich verwendete diesen Film, was eine ganze Reihe an Veränderungen mit sich brachte. Es gab so vieles, das ich ganz neu lernen musste, tatsächlich war es so, als würde ich eine neue, viel komplexere, subtilere, emotionale und reiche Sprache sprechen und schreiben lernen. Ich kehrte nie wieder zu schwarz-weiß zurück.

NB: Du arbeitest immer noch analog. Weshalb?

MB: Aufgrund des Ausmaßes an Vertrauen, das es voraussetzt. Egal, ob es um einen Auftrag oder um eine Situation im persönlichen Umfeld geht, weder ich noch das Motiv können sehen, was passiert. Also müssen wir einander vertrauen. Und es gefällt mir, dass das Motiv nicht mit einer Aufnahme von sich selbst konfrontiert wird. Ich glaube, dadurch können sie sich selbst ein wenig mehr vergessen, sich öffnen. Wir können also wirklich etwas miteinander teilen. Wir erkennen aneinander Bewegungen, Augen, Haltungen, was funktioniert und was nicht. Es wird sehr sensibel. Fast so, wie ein Tanz manchmal ist. Manchmal mache ich vier oder fünf Tage lang Aufnahmen für einen Kunden und keiner bekommt auch nur ein Bild zu Gesicht. Das gefällt mir. Ich verbringe also nicht zu viel Zeit mit derselben Sache, sondern suche weiter nach Ideen, ohne zu viel darüber nachzudenken, was ich gerade gemacht habe. Wenn die Filme dann entwickelt werden, wenn ich die Bilder schließlich entdecke, kann ich die ganze Geschichte mit neuen Augen betrachten. Das hat mich dazu gezwungen, meine Werkzeuge wirklich gut zu beherrschen, sodass sie zu einer beinahe natürlichen Erweiterung meines Auges wurden. Ich habe aber auch das Gefühl, dass mir dies viel mehr Freiheit erlaubt und mich antreibt, immer zum nächsten Bild weiter zu gehen, und nie bei einer Idee stehen zu bleiben. Ich glaube, ich mag Beschränkungen. Das analoge Arbeiten zwingt mich auch dazu, ziemlich effizient zu sein, in dem Sinn, dass ich nicht zu viele Einzelaufnahmen der gleichen Sache mache. Für gewöhnlich nicht mehr als zwei. Es lässt sich vielleicht mit dem Abschießen eines Pfeiles vergleichen, wobei man versucht, das anvisierte Ziel schon im Geiste zu treffen, im Gegensatz zu einem Maschinengewehr, mit dem man drauflosfeuert und sicher sein kann, das man etwas treffen wird.
Aber ich bin sicher, dass es auch digitale Fotografen gibt, die über die Willenskraft verfügen, nicht auf ihr Display zu sehen, und die ihre Kamera genau wie eine analoge einsetzen, aber ich glaube, ich könnte das nicht. Ich würde mit Sicherheit auf das Display schauen.

NB: Du bist 2007 nach Berlin gezogen. Welche Bedeutung hat die Stadt für dich?

MB: Meine Arbeiten haben geistig betrachtet nichts mit Berlin zu tun, auch wenn viele der Aufnahmen dort stattfinden. Ich kann das nicht geografisch betrachten. Die Städte und Länder, in denen ich arbeite, sind sehr wichtig in ihrer Verschiedenartigkeit. Das, was ich in Berlin gefunden habe, gefällt mir sehr, und ich finde es immer weniger. Nicht wegen der Stadt, sondern weil sich meine Augen im Laufe der Zeit an die Landschaft gewöhnt haben. Reisen ist in meinem Prozess ganz wesentlich. Ich muss diese Augen mit unterschiedlichen Farben und Kulturen und Arten von Humor füttern. Ich würde gar nirgends hinfahren, wenn es nicht darum ginge, Fotos zu machen. Es ist zudem der einzige Weg für mich, etwas zu sehen. Wenn du mit der Kamera in der Hand umherstreifst, dann führt dich jede Bewegung zum nächsten Bild, du gehst zurück, bleibst stehen, wartest. Es ist eine ganz besondere Art, die Welt zu erleben. All deine Energie und Aufmerksamkeit sind auf ein Auge und einen Arm konzentriert.

NB: Du arbeitest hauptsächlich für Modemarken und Fashionmagazine. Fühlst du dich in dieser Welt wohl?

MB: Nicht mehr oder weniger als in jeder anderen Szene. Die Modebranche ist voll von fantastischen, feinfühligen, warmherzigen, bescheidenen und weltoffenen Menschen, aber auch vom kompletten Gegenteil. Ich glaube, dass jede Art von Szene eine Miniaturwelt darstellt, mit ihren eigenen Codes, Hierarchien, Überzeugungen, ihren Geschichten, mit denen man sich erst einmal etwas vertraut machen muss. Obwohl ich nicht immer darin leben könnte, kann es doch ein äußerst interessanter Ort sein, besonders für einen Fotografen. Wo man zur gleichen Zeit Beobachter sein kann, aber auch Akteur, wenn man fotografiert. Es erlaubt eine sehr direkte Art des Dialogs.

NB: Wie würdest du deinen Stil beschreiben?

MB: Was die Fotografie betrifft, so habe ich nie wirklich an Stile geglaubt, sondern eher an eine Art der Herangehensweise und des Betrachtens von Motiven, die man gerne festhalten möchte. Einer Werkgruppe vielleicht eine besondere, manchmal einzigartige Geschmacksrichtung verleihen?
Ich setze sehr einfache Werkzeuge ein, nur drei Kameras, von denen jede ihren eigenen Zweck erfüllt und auf geringfügig unterschiedliche Weise zum Einsatz kommt. Eine schnelle, eine rein stabile sowie eine mit einem wirklich Weitwinkel, um ganz nahe zu kommen.
Ich entwerfe und konzipiere die Aufnahmen schon im Geiste und habe die Kamera dabei hinter meinem Rücken versteckt oder in der Hand hängend. Ich warte auf den richtigen Augenblick oder drehe das Motiv so lange, bis ich einen Winkel finde, der funktionieren könnte.

NB: Hast du irgendwelche Vorbilder in der Fotografie?

MB: William Klein, für seinen Zugang zum Medium und die Art und Weise, wie er zu dessen Weiterentwicklung beigetragen hat. Helmut Newton, wegen seines Humors und seiner frechen Fantasie. Mary Ellen Mark aufgrund ihrer unglaublichen Hingabe.
Ebenso Antoine d’Agata, Martin Parr, Bruce Davidson, Daidō Moriyama, Anders Petersen, Guy Bourdin, Jeff Wall, Les Krims, aber auch Sophie Calle oder Duane Michals, etc. Das sind alles Fotografen, zu denen ich aufgeblickt habe, als ich mit der Fotografie begann. Und durch ihre Bücher haben sie mir so viel beigebracht. Stundenlang blieb ich in der Bücherei, und sie waren eine solche Inspiration.
Der jüngeren Generation von Fotografen schenke ich bewusst nicht so viel Beachtung, nicht aus mangelndem Interesse, sondern um mich von jeder Art der visuellen Beeinflussung oder von Beschränkungen fernzuhalten, die meine eigene Arbeit einschränken, oder meinen Blick trüben würden. Ich suche lieber in Romanen, Filmen, Gemälden, auf der Straße.

NB: Das Buch ist eine Kooperation mit Sang Bleu London. Verrätst du uns, wie diese Zusammenarbeit zustande kam?

MB: Maxime Büchi von Sang Bleu war vermutlich der erste Mensch, der mich dazu ermutigte, dieses Buch zu machen, nachdem er meine Arbeiten vor einigen Jahren in seinen Londoner Räumen gezeigt hatte. Er ermutigte mich jedoch nicht nur, sondern sicherte auch seine Unterstützung zu. Wir kennen einander nun schon eine ganze Weile, fast zehn Jahre lang, und ich habe das, was er macht, immer bewundert und ihm vertraut. Ich bin sehr froh, dass er an dem Projekt beteiligt ist. Er ist jemand, mit dem ich offen sprechen, jede Idee teilen kann. Alles was er anpackt, macht er mit einer Menge Herzblut.

NB: Ist das Medium Fotografie für die Ewigkeit gedacht?

MB: Die Ewigkeit erscheint ganz schön lange, aber ich hoffe doch, dass Fotografie wie Bücher, Zeichnungen oder Musik auch etwas ist, das kommende Generationen betrachten können, um einen Teil der Welt zu entdecken, aus der sie stammen.

© Nadine Barth

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