INTERVIEW MIT EVA SCHARRER

Das Interview mit Eva Scharrer, Agentin der dOCUMENTA (13), führten die Kunstjournalisten Nicole Büsing und Heiko Klaas.

Frau Scharrer, stellen Sie sich doch bitte kurz vor und erläutern Sie uns Ihre Tätigkeit auf der Documenta.

Mein Name ist Eva Scharrer. Ich kam im April 2009 nach Kassel und war damit die erste im Team vor Ort. Angefangen habe ich als persönliche Assistentin von Carolyn Christov-Bakargiev. Ich kenne sie, seit ich im Jahr 2000 ihre Praktikantin am PS1 Contemporary Art Center in New York war, also seit über zehn Jahren. Ich hatte zwar seitdem nicht mehr mit ihr gearbeitet, aber wir sind uns immer wieder begegnet, und sie verfolgte auch meine Projekte als freie Kuratorin. Am Tag nach ihrer Berufung bekam ich dann einen Anruf, ob ich interessiert wäre, nach Kassel zu kommen. Da konnte ich natürlich nicht Nein sagen. Neben der persönlichen Assistenz habe ich vor allem Recherche gemacht. Es bestand aber von Anfang an die Option, dass sich meine Position verändern kann, und jetzt mache ich vor allem das, was ich vor Kassel auch gemacht habe: schreiben. Ich war vorher als freischaffende Kuratorin und Kritikerin tätig und bin nun als Agentin der dOCUMENTA (13) damit betraut, einen Großteil der Texte für das Guidebook zu schreiben. Das Begleitbuch enthält die Texte, die dem Publikum die Arbeiten der Künstler vermitteln sollen.

Sind Sie als Leiterin eines Teams tätig?

Nicht als Leiterin eines Teams. Ich arbeite innerhalb der Publikationsabteilung, aber da relativ autonom. Ungefähr die Hälfte aller Texte des Guidebooks werden aus meiner Feder kommen. Die anderen sind auf unterschiedliche Agenten oder Personen, die zum Team der dOCUMENTA (13) gehören, verteilt worden.

Es sind also keine Texte über Künstler an externe Autoren gegeben worden?

Nein, nur in ganz wenigen Ausnahmefällen. Einige Künstler haben auch selber geschrieben.

Uns wäre es generell noch einmal wichtig, den für die dOCUMENTA (13) so zentralen Begriff Agent/Agentin zu klären. Wie wird er verwendet? Warum hat sich Carolyn Christov-Bakargiev für diesen Begriff entschieden?

Mehr als um den Agentenbegriff im Sinne eines Handelns im Verborgenen (der aber auch mitschwingt) geht es dabei um den Begriff der »agency«, der individuellen Tätigkeit und delegierten Handlungskraft des Einzelnen. Die Agenten tragen auf unterschiedliche Weise zu dem Prozess der Entstehung der dOCUMENTA (13) bei und sind unterschiedlich stark involviert. In einigen Fällen ist die Zusammenarbeit eng und kontinuierlich, in anderen eher lose und sporadisch. Da gibt es Chus Martínez, die als Head of Department sehr stark involviert ist. Sie ist auch als Einzige der Agentinnen mit ihrer ganzen Familie nach Kassel gezogen, um eben vor Ort zu wirken. Dann gibt es andere, die innerhalb der dOCUMENTA (13) in bestimmte Projekte involviert sind. Und dann gibt es noch die Gruppe derer, darunter sind Künstler und Kuratoren, die anderweitig auf der Welt beschäftigt sind und sich von dort aus einbringen. So bleibt der Entstehungsprozess der dOCUMENTA (13) organisch und offen für Veränderungen.

Also auf Reisen oder vor Ort in den Städten, wo auch die Künstler leben?

Genau. Aufgrund ihres Hintergrundes, ihres Wissens und auch ihrer geografischen Ausgangslage haben sie Künstler vorgeschlagen, und betreuen diese auch teilweise.

Die Intensität der Mitarbeit ist also ganz unterschiedlich?

Deswegen werden sie auch nicht Kuratoren genannt. Nicht nur weil Carolyn Christov-Bakargiev eine gewisse Skepsis gegenüber dem Begriff des Kurators hat, aber auch weil sie ganz anders wirken, als es beispielsweise bei der Documenta11 der Fall war, wo ein Kuratorenteam direkt hier vor Ort gearbeitet hat.

Wie hat man sich die Zusammenarbeit unter den 14 Agenten vorzustellen? Gibt es da regelmäßige Treffen oder Telefonkonferenzen?

Nein, die gibt es nicht. Natürlich gibt es Treffen. Wir sprechen miteinander, aber es gibt keine feste Struktur, weil doch jeder sein eigenes Terrain und Aufgabengebiet hat. Es gab jedoch zu Beginn, im September 2009, eine gemeinsame Reise, wo alle Agenten zusammen mit dem Zug von Turin nach Kassel gefahren sind. Das war nach der von Carolyn Christov-Bakargiev am Castello di Rivoli organisierten Konferenz, zu der alle ehemaligen documenta-Leiter eingeladen waren. Während der Zugfahrt und vor allem während der darauffolgenden Tage in Kassel gab es sehr intensive Gespräche und Austausch über die Konzeption und die Orte der dOCUMENTA (13).

Um die Künstlertexte zu schreiben, besuchen Sie da die Künstler, oder wie beschaffen Sie sich die notwendigen Informationen?

Auch das ist sehr unterschiedlich. Einige der Künstler kenne ich schon sehr lange persönlich und habe auch schon mit ihnen gearbeitet. Das geht ebenfalls noch auf die Zeit in New York zurück. Außerdem kommen ja fast alle Künstler zum site visit nach Kassel. Wenn ein Künstler hier vor Ort ist, dann nehme ich natürlich die Gelegenheit wahr und treffe mich mit ihm oder ihr, soweit der Zeitplan das zulässt, und wir sprechen über die Arbeit. Das klappt aber leider nicht immer. In dem Fall mache ich die übliche Recherche übers Internet, Publikationen und andere Materialien. Natürlich gibt es auch Künstler, die relativ neu dazukamen, oder über die vielleicht noch gar nichts geschrieben wurde, zumindest nicht auf Englisch oder auf Deutsch. Ich muss mich dann auf das Material verlassen, das ich vom Künstler direkt bekomme. Jeder Künstler verfasst ein Project Proposal, das eine Biografie enthält und Angaben über die Arbeit, die er oder sie zu realisieren plant – was sich oftmals jedoch auch noch im Entstehungsprozess befindet.

Welche Umfänge werden die einzelnen Künstlertexte haben?

Die Texte haben im Englischen um die 440 Worte, das ist etwas mehr als eine DIN-A4-Seite. Ich schreibe auf Englisch, und sie werden dann übersetzt. Ich bemühe mich, möglichst breite Informationen über das Werk an sich, aber auch über die aktuell entstehende Arbeit zu geben. Jeder Künstler bekommt eine Doppelseite, Text und Bild, somit müssen der englische und der deutsche Text auf eine Seite passen.

Und gibt es da bestimmte Anforderungen, die diese Texte im Kurzführer erfüllen sollen? Sie sind ja wahrscheinlich eher für ein breites Publikum geschrieben...

Ich gehe da relativ intuitiv vor. In der Regel ist der Text so aufgebaut: ein Drittel allgemein über die Arbeit des Künstlers, dann spreche ich zwei, drei vorangegangene wichtige Arbeiten an, und dann stelle ich die Arbeit vor, die für die dOCUMENTA (13) entsteht. Manchmal erfordert dies aber auch so viel Platz, dass ich mich hauptsächlich auf das Projekt konzentriere. Manchmal ist aber die Arbeit auch noch gar nicht weit genug gediehen, so dass der Inhalt mit einem Satz oder relativ offen formuliert werden muss. Und natürlich kommt es auch immer darauf an, wie viel schon über den Künstler oder die Künstlerin gesagt und geschrieben wurde, wie notwendig es ist, einen Künstler überhaupt vorzustellen. Ich bemühe mich natürlich, dass meine Texte sowohl für ein breites Publikum verständlich, als auch für ein Fachpublikum interessant sind.

Kommt denn überhaupt jeder Künstler mit einer fertigen Arbeit? Wird nicht vieles erst hier vor Ort entstehen?

Von den noch lebenden Künstlern entwickeln fast alle neue Arbeiten vor Ort. Das macht es natürlich nicht gerade einfach, über sie zu schreiben. In vielen Fällen ist das Konzept schon so gut vorformuliert, dass man die Arbeit nicht unbedingt gesehen haben muss, um zu verstehen, worum es geht, und darüber zu schreiben. Es gibt aber auch solche, die noch sehr vage sind. Bei vielen hat sich das Projekt im Laufe der Zeit auch immer wieder verändert. Es gibt Texte, die ich schon diverse Male neu habe schreiben müssen, selbst wenn sie bereits editiert, übersetzt und sogar im Satz waren.

Was macht Ihnen besonders viel Spaß an der Arbeit?

Mir macht vor allem immer wieder der Kontakt mit den Künstlern Spaß. Ich lerne viel von den Künstlern selber. Mir gefällt dieses wahnsinnige Potenzial von kreativen Menschen, die man um sich hat: das Team, die Künstler, die Autoren, die die Notebooks schreiben. Man ist da von einer Dichte von interessanten Personen und Gedanken umhüllt. Das ist eine einzigartige Erfahrung die man wohl sonst so nie wieder macht.

Da hört man heraus, dass die Arbeit im Team offenbar reibungslos funktioniert...

Ich muss sagen, die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut und ich bin wahnsinnig froh über dieses Team. Wir in unserer kleinen, etwas abgeschotteten Abteilung haben ein super Verhältnis. Aber ich fühle mich auch in dem kuratorischen Team und dem Vermittlungsteam sehr wohl und habe überall wertvolle neue Freunde gefunden. Obwohl doch der Stress und der Druck inzwischen schon sehr groß sind, ist es ein ganz fantastisches Team, das sich gegenseitig unterstützt.

Wie oft finden denn gemeinsame Besprechungen statt oder auch Treffen mit der Künstlerischen Leitung? Oder spielt das gar nicht so eine große Rolle?

Das kommt ganz auf die Abteilung an. Wir sitzen ja auf relativ kleinem Raum zusammen, und ich bin wahrscheinlich sowieso diejenige, die am autonomsten arbeiten kann. Da ist eher weniger Bedarf da, dass man sich formal trifft. Wohingegen in den anderen Abteilungen dies schon mehrmals die Woche stattfinden muss, sonst verliert man den Überblick über ein so komplexes Projekt, das sich unentwegt verändert und erweitert.

Sind immer Künstler vor Ort in Kassel? Im Moment zum Beispiel?

Die meiste Zeit sind ein oder mehrere Künstler vor Ort. Im Moment ist mit Sicherheit zumindest eine Künstlerin hier. Manche Künstler kommen immer wieder, um an ihrem Projekt zu arbeiten. Gerade am Anfang gab es Zeiten, da waren bis zu 20 Künstler gleichzeitig da.

Kassel neben der Documenta, was gibt es da, was Sie interessiert? Gibt es Lieblingsorte, die Sie entdeckt haben?

Ja, sicher. Ich mag zum Beispiel die Aue sehr gern und verbringe da auch, soweit das möglich ist, viel Zeit.

Ist das ein guter Rückzugsort, um mal in der Documenta-freien Zeit nachzudenken oder zur Ruhe zu kommen?

Bei schönem Wetter auf jeden Fall. Ich bin ja jetzt doch schon relativ lange hier in Kassel. Es sind bald drei Jahre. Inzwischen habe ich hier auch Freunde außerhalb der documenta gefunden und damit auch so etwas wie ein soziales Leben, was natürlich am Anfang sehr schwierig war, als ich hierher kam und niemanden kannte. Ich habe in Kassel auch wieder mit dem Reiten und mit Yoga angefangen. Gerade bei so einem Job braucht man nebenbei einen körperlichen Ausgleich. Mittlerweile wird es aber kritisch, dafür noch die Zeit zu finden.

Also, die heiße Phase steht Ihnen jetzt unmittelbar bevor?

Die heiße Phase... da sind wir alle, glaube ich, gerade mittendrin. In unserem Team wird das wohl gegen Ende März ein bisschen abnehmen, weil wir momentan mitten in den Deadlines für die Publikationen stecken. Natürlich gibt es dann auch noch die Nachbearbeitung. Generell ist im Moment für alle eine sehr intensive Zeit, das war es eigentlich von Anfang an und wird sich wohl so schnell auch nicht ändern.

Mit dem Schreiben sind Sie bald fertig. Wie werden Sie die nächsten Monate verbringen?

Genug zu tun gibt es sicher noch. Wenn die Publikationen fertig sind kommen Labels und Wandtexte. Außerdem mache ich kurze Videointerviews mit den Künstlern für die Website und die »dMAPS« für die dOCUMENTA (13)-App. Außerdem bin eine der Tutorinnen für die »Worldly Companions« und werde auch selber vor Ort Führungen geben. Ich werde also auf jeden Fall über die Dauer der Ausstellung in Kassel bleiben.

Sie freuen sich auch auf die Zeit, wenn die Ausstellung endlich läuft?

Auf jeden Fall. Es ist es natürlich eine einmalige Erfahrung, so ein Projekt vom Anfang bis zum Ende mitgemacht zu haben. Das habe ich vorher auch noch nie erlebt. Ich war zwar auf den letzten zwei documenta-Ausstellungen, aber nur zu den Eröffnungstagen und auch jeweils nur knapp zwei Tage. Daher habe ich diese sagenhafte Wirkung, von der man immer hört, wie die documenta Kassel verändert und wie die Stadt plötzlich aufblüht und international wird, bis jetzt auch noch nicht erleben können. Es werden viele Künstler über längere Zeit in Kassel sein, weil es sehr viele aktivierte Projekte gibt, für die die Künstler vor Ort sind. Außerdem wird es ein reichhaltiges Programm mit Filmen, Konferenzen und Vorträgen geben.

Haben Sie schon Pläne für die Zeit nach der Documenta?

Bis jetzt noch keine konkreten. Ich komme aus der Freiberuflichkeit und es gibt natürlich erst einmal die Möglichkeit, wieder dahin zurückzugehen. Dieses Leben ist jedoch mit der Zeit auch ziemlich anstrengend. Etwas Kontinuität und zu wissen, wo und wovon man die nächsten Jahre leben wird, wäre auch schön. Ich werde mich jedenfalls nach der dOCUMENTA (13) erst einmal wieder ganz neu orientieren müssen.

Aber dann mit der Offenheit auch für internationale Aufgaben?

Ja, auf jeden Fall.

März 2012
Veröffentlicht am: 31.03.2012