SURREALISMUS

»Ich glaube an die künftige Auflösung der beiden äußerlich so widersprüchlichen Zustände - Traum und Wirklichkeit – in einer Art von absoluter Wirklichkeit, der Surrealität.« ⸺ André Breton, 1. Manifest des Surrealismus, 1924

Die Begründer des Surrealismus verstanden sich zunächst nicht als Vertreter einer neuen Kunstrichtung, sondern vielmehr als Verfechter einer revolutionären Weltanschauung. Im 1. Manifest des Surrealismus (1924) definierte André Breton den Surrealismus als »psychischen Automatismus«, in dem das freie Spiel der Gedanken nicht durch die Vernunft kontrolliert werden darf. Die Freisetzung der metaphorischen Fähigkeiten des Geistes und die intensive Beschäftigung mit freien Assoziationsformen sollte zur Erkenntnis einer höheren Wirklichkeit führen. In diesem Zusammenhang betonten die Surrealisten die Bedeutung von Träumen, Fantasien und unterdrückten Gefühlswelten. Deutlich hört man hier den Einfluss der wissenschaftlichen Untersuchungen Sigmund Freuds heraus. Die Verbindung der Surrealisten zur Medizin und zur damals begründeten Wissenschaft der Psychoanalyse war eng.

Wichtigstes Medium der surrealistischen Bewegung, die sich um 1920 formierte, war anfangs die Literatur. Von 1924 bis 1929 existierte die Zeitschrift La Révolution Surréaliste. Den jungen Literaten um Breton schloss sich bald eine Reihe bildender Künstler aus dadaistischen Gruppen an. Beide Bewegungen verband die Tendenz zu provokanten Äußerungen und zur radikalen Ablehnung der bisher gültigen künstlerischen Normen. Die bildende Kunst entwickelte sich danach schnell zur wichtigsten Ausdrucksform des Surrealismus.

Künstler wie Salvador Dalí, Max Ernst und René Magritte schufen in den 1920er- bis 1940er-Jahren überwiegend Bilder, die an Traumsequenzen erinnern. Vertraute Gegenstände erscheinen darin in verfremdeter Form oder in ungewöhnlicher Zusammenstellung und verweisen so auf die Existenz von Welten jenseits der sichtbaren Wirklichkeit.

Der Autodidakt Max Ernst (1891-1976) bevorzugte Techniken, in denen die Kraft des Zufalls zum Tragen kommt. Er erfand die Frottage (Durchreiben von Holzmaserungen) und ließ sogar – wie später die Vertreter des Action Painting – Farbe auf den Bildgrund tropfen, um den künstlerischen Schaffensprozess von der ästhetischen Kontrolle zu befreien. Salvador Dalí (1904-1989) glaubte an die schöpferische Kraft der Neurose. Inspiriert von Sigmund Freuds Traumdeutung sah er in der Herbeiführung paranoischer Zustände eine künstlerische Methode. Dalís Selbstinszenierung als Exzentriker und die verstörenden Motive seiner Bilder kontrastieren scharf mit seiner akribischen Maltechnik. Geisterhaft und schaurig wirken auch die Traumwelten, die der bedeutendste deutsche Surrealist Richard Oelze (1900-1980) entwarf. Seine Landschaften werden von wuchernden Pflanzen und dämonischen Wesen bevölkert. Poetisch und manchmal fast heiter wirken die Szenerien auf den Bildern René Magrittes (1898-1967). Bei näherem Hinsehen wird die Zusammenstellung der mehr oder weniger alltäglichen Motive immer mysteriöser. Mit seinen komplexen Zeichensystemen wollte Magritte den Betrachter dazu anregen, über die begrenzten Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung nachzudenken.

Der eigenwillige Stil von Joan Miró (1893-1983) steht für eine Richtung surrealistischer Malerei, die den unmittelbaren Ausdruck des Unbewussten durch die spontane künstlerische Äußerung auf der Leinwand verwirklichen wollte. In der Dynamik von Mirós heiteren Kompositionen aus hieroglyphenhaften Piktogrammen und kalligrafischen Elementen kommt diese Spontaneität zum Ausdruck. Die wüstenartigen Landschaftspanoramen Yves Tanguys (1900-1955), in denen bizarre Gebilde ihre Schatten werfen, wirken dagegen wesentlich kalkulierter.

Der Surrealismus hatte eine stilprägende Wirkung auf die Malerei des 20. Jahrhunderts. Der surrealistische Film (Luis Buñuel, Jean Cocteau) und die surrealistische Fotokunst (Man Ray, Dalí, Halsman) wirkten stark auf die Stilentwicklung dieser Medien ein – bis hin zur Werbegrafik, die sich häufig surrealistischer Elemente bedient.

In der zeitgenössischen Kunst sind surrealistische Ansätze wieder hoch aktuell. Schließlich gilt es, in eine weitere unbekannte Realitätsebene vorzudringen – die Welt der virtuellen Wirklichkeit. Die digitale Bildbearbeitung eröffnet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, vertraute Motive zu verfremden oder sie in surrealen Collagen zusammenzustellen. Solche kalkulierten Anwendungen der ästhetischen Mittel des historischen Surrealismus führen aber auch zum Nachlassen seiner Aussagekraft. Angesichts ihres inflationären Einsatzes im kommerziellen Bereich der Computerspiele und des Internet ist das Interesse der Kunst an dieser Technik begrenzt. Hier beobachtet man vielmehr ein Spiel mit menschlichen Sehgewohnheiten, das auf visuelle Irritationen setzt. Die technische Entstehung eines Bildes wird verschleiert oder erscheint vielschichtig gebrochen. Der junge britische Maler Glenn Brown kopiert beispielsweise bekannte Werke von Dalí, van Gogh oder Rembrandt. Dabei gestaltet er die Oberfläche völlig glatt, nimmt aber erkennbare Veränderungen gegenüber dem Original vor. Irritiert stehen die Betrachtenden vor einem Bild, das wie eine Fotografie wirkt, aber eindeutig weder das bekannte Gemälde zeigt, noch – mangels Struktur - eine andere künstlerische Handschrift offenbart.

Andere Künstler*innen verweisen auf surreale Aspekte unseres Alltags, indem sie diese mit extremem Realismus oder in überdimensionierter Form im musealen Zusammenhang präsentieren. Dies gilt etwa für die lebensechten Skulpturen von Duane Hanson oder für das provokante Werk von Jeff Koons. Das Interesse der Surrealisten an der Erforschung der menschlichen Psyche tritt bei zeitgenössischen Künstler*innen in den Hintergrund. Ein zentrales Thema in der aktuellen Kunstszene ist vielmehr die Frage, wie die Bilder der Massenmedien das kollektive Unterbewusstsein und unsere Vorstellungen von Realität prägen. Solche im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Bilder macht sich die Fotokünstlerin Cindy Sherman in ihrer bekanntesten Arbeit Untitled Film Stills zunutze: Die Fotografien, die den Betrachter*innen an Szenen von Filmklassikern erinnern, zeigen bei näherem Hinsehen immer wieder die Künstlerin selbst, die für jede Szene in eine andere Rolle schlüpfte.

Surrealität und Stilmittel des historischen Surrealismus sind in der zeitgenössischen Kunst ein Teil des gängigen Repertoires künstlerischer Ausdrucksformen geworden. Dies verdeutlichte zur Jahrtausendwende eine Ausstellung mit Werken aus den vergangenen 50 Jahren, die im Kunsthaus Zürich und in der Hamburger Kunsthalle gezeigt wurde. Mit dem Titel Hypermental sollte der Bezug zum historischen Surrealismus hergestellt werden, gleichzeitig wurde damit aber auch auf den neuartigen Charakter surrealistischer Ansätze in der zeitgenössischen Kunst hingewiesen. Zu sehen waren unter anderem Werke von Matthew Barney, Marcel Duchamp, Glenn Brown, Duane Hanson, Jeff Koons, Sarah Lucas, Cindy Sherman, Jeff Wall und Tom Wesselman.

veröffentlicht am 5.5.2002 – Andrea Gern

 

Bild: Claude Cahun, »Autoporträt (Selbstporträt)«, um 1928, Detail

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