VOM WORT ZUM BILD: KÜNSTLERISCHE DOPPELBEGABUNGEN

»Nicht daß ich mich für einen Maler hielte oder einer werden wollte. Aber das Malen ist wunderschön, es macht einen froher und duldsamer. Man hat nachher nicht wie beim Schreiben schwarze Finger, sondern rote und blaue.« ⸺ Hermann Hesse

Viele Dichter und Denker – aller Epochen und Couleur – griffen mit ebenso großer Leidenschaft zur Feder wie zum Pinsel oder Zeichenstift. Als künstlerische Doppelbegabungen bewegten sie sich tastend oder souverän in zwei Welten, die sich gegenseitig beleben.

 »Worte und Bilder sind Korrelate, die sich immerfort suchen«, schrieb einst Johann Wolfgang von Goethe. Die zahlreichen Literaten, die mit Leidenschaft zu Pinsel, Farbe, Leinwand oder anderen Malutensilien griffen, scheinen die Aussage des »Geheimen Rates«, der selbst zu den mehrfach begabten Künstlern zählte, zu bestätigen.
Doch wem ist heute noch bekannt, dass der große dänische Märchenerzähler Hans Christian Andersen sein Publikum auch mit Scherenschnitten zu begeistern wusste? Wem ist geläufig, dass Hermann Hesse, der weltweit bekannte Autor von Romanen wie Siddharta und Der Steppenwolf, über Jahre hinweg zeichnete und aquarellierte, am liebsten, so seine eigenen Worte, auf »schönes italienisches Papier«? Wem ist präsent, dass der vor allem für seine humoristischen Gedichte geliebte Joachim Ringelnatz ein beachtliches malerisches Œuvre hinterlassen hat?
Dabei liest sich die Liste der sogenannten Doppelbegabungen, die über ihr ureigenes Metier hinaus kreativ waren oder sind, wie ein Who's Who der Literaturgeschichte: Sie reicht, um an dieser Stelle nur einzelne prominente Vertreter aus Deutschland zu nennen, von Thomas Murner über Jörg Wickram bis Matthias Claudius, von Johann Wolfgang von Goethe über E.T.A. Hoffmann bis Philipp Otto Runge, von Justinus Kerner über Adalbert Stifter bis Wilhelm Busch, von Heinrich Mann über Franz Kafka bis Kurt Schwitters, von Hans Arp über Peter Weiss bis Günter Grass. Das grenzübergreifende künstlerische Streben beschränkt sich nicht nur auf den Wechsel vom Wort zum Bild, sondern auch vom Wort zum Klang und vice versa; es gibt Dichter*innen, die komponiert haben, Komponist*innen, die gemalt oder gezeichnet haben, bildende Künstler*innen, die Lyrik oder Prosa geschrieben oder komponiert haben. Doch ist die Zahl an Wortkünstler*innen, die sich als Bildkünstler*innen versuchten, ungewöhnlich groß. »Kein Wunder«, schrieb John Updike, »Die Werkzeuge sind verwandt, der Impuls ist derselbe.«

Betrachtet man das Verhältnis der Künste über die Jahrhunderte, so sind – eingebettet in Strömungen und Debatten der Zeit – eine stete Annäherung und Abgrenzung ablesbar: Seit der Antike wurde immer wieder die Ähnlichkeit von Wort und Bild herausgestellt, in seiner berühmten Formel »ut pictura poesis« (veröffentlicht 14 v. Chr.) beschrieb der römische Dichter Horaz seine Vorstellung, »eine Dichtung (solle) wie ein Gemälde« sein. Zwar folgte auch die Renaissance der Vorstellung der »Schwesterkünste« und formulierte das Ideal des »uomo universale«, des universal gebildeten Menschen; Leonardo da Vinci – Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph – wurde als Verkörperung der Universalbegabung, als »allseitiges Genie« (Sigmund Freud), gerühmt. Doch emanzipierten sich im Zuge des Renaissance-Humanismus die Einzelkünste zunehmend, in Rückbesinnung auf die Antike entbrannten Diskussionen, welcher Kunstgattung der edlere Rang gebühre. In der Aufklärung bemühte sich etwa Gotthold Ephraim Lessing in seiner einflussreichen Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) um eine Grenzbestimmung der Künste. Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller nahmen in der Klassik die Debatte über die Verwandtschaft oder Verschiedenheit von Dichtung und Malerei wieder auf und arbeiteten an der Profilierung der einzelnen Kunstdisziplinen weiter. Demgegenüber stehen Bestrebungen, die Wort und Bild erneut zusammenbanden: Im Barock beispielsweise wurden Dichtung und Malerei eng verwoben, zentrale Bedeutung gewann die Emblematik, eine Wort-Bild-Gattung, die sich so großer Beliebtheit erfreute, dass die Epoche in der Forschung auch als »emblematisches Zeitalter« (Albrecht Schöne) bezeichnet wurde. Der Vermischung der Künste gaben auch die Romantiker neue Impulse: Philipp Otto Runge war von dem Gedanken beseelt, Malerei, Dichtung, Musik und Architektur in einem allumfassenden Gesamtkunstwerk zu vereinen. Im Expressionismus schlossen sich Kunst und Literatur mit dem Ziel einer geistigen Erneuerung der etablierten Welt zusammen: In euphorischen Worten rief Ernst Ludwig Kirchner im Programm der Brücke von 1906 zu »Arm- und Lebensfreiheit [...] gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften« auf. Geradezu eine Vereinigung der Einzelkünste erhofften sich die Protagonisten der Antikunstbewegung des Dadaismus, als herausragendes Beispiel gilt der Merzbau von Kurt Schwitters: »Von der Malerei zur Skulptur, vom Bild zur Typographie, zur Collage, zur Fotografie und Fotomontage, von der abstrakten Form zum Rollenbild, vom Rollenbild zum Film, zum Relief, zum Objet trouvé, zum Readymade […] Überall spiegelte sich die neue Un-Begrenztheit wider. Das Ventil war aufgesprungen ...« (Hans Richter). Am Bauhaus schließlich, mit dem der spotlightartige historische Abriss beschlossen werden soll, wurde »die Gleichberechtigung aller Arten schöpferischer Arbeit und ihr logisches Ineinandergreifen innerhalb der modernen Weltordnung« proklamiert, wie es Walter Gropius als Kopf der 1919 begründeten Bildungsstätte formulierte.

Eine Frage beschäftigt die Wissenschaftler*innen von Beginn an, seit in einer ersten Ausstellung in Heidelberg und Mannheim im Jahr 1931 dem Phänomen der Doppelbegabung nachgespürt wurde: Können die Ergebnisse der doppelbegabten Künstler und Künstlerinnen im Literarischen und Bildnerischen als qualitativ gleichwertig angesehen werden? Liegt also »echte« Doppelbegabung vor oder ist die Beschäftigung mit der Bildkunst womöglich nur Hobbymalerei, nur »produktives Dilettantentum«, um es mit Johann Wolfgang von Goethe zu formulieren?

War etwa Goethe selbst eine künstlerische Doppelbegabung? Zweifellos war er ein vielseitiges Talent: Er studierte Jura, beschäftigte sich als Naturwissenschaftler mit Physik, Botanik, Anatomie und Mineralogie, zeigte als Geheimrat Geschick in der Politik und erzielte nicht nur als Dichter großes Renommee, sondern strebte, ausgebildet im Zeichnen, Radieren und Kupferstechen, auch eine Karriere als bildender Künstler an. Insbesondere auf seinen Reisen hielt er das Gesehene zeichnerisch fest, bei seinem berühmten Italienaufenthalt 1786–1788 mietete er sich in Rom gar als »Filippo Miller, tedesco, pittore« ein. Doch schnell keimte in ihm die Einsicht, dass er »eigentlich zur Dichtkunst geboren« sei, angesichts seiner bildkünstlerischen Bemühungen sprach er von »mein Talentchen«, um nach seiner Italienreise zu resümieren: »Mein Durst ist gestillt«. Dennoch hinterließ Goethe ein Konvolut von rund 2500 Zeichnungen – hat eines der Blätter die Wucht des Romans Die Wahlverwandtschaften (1809), den Zauber seiner Liebesgedichte und Balladen?

Oder der Literat Victor Hugo, war der Begründer der französischen Romantik noch mit einem zweiten, gleichwertigen Talent ausgestattet? Hugo selbst wertete seine Ausflüge ins benachbarte Fach lediglich als »Zeitvertreib zwischen zwei Versen«: Fasziniert von der dramatischen Schönheit der Rheinlandschaft, schuf er auf seinen Reisen 1839 und 1840 zahlreiche Zeichnungen, daneben entstanden abstrakte Tuschebilder, die sogenannten »taches«, für die der Künstler auf unorthodoxe Weise mit Malmaterialien wie Kaffee, Tee, Rotwein, Schuhcreme, abgebrannten Zündhölzern oder zerdrückten Federkielen experimentierte und dabei einen unverwechselbaren persönlichen Stil entwickelte. Die mit außerordentlichem Erfindungsreichtum geschaffenen »Flecken« erinnern als nicht-gegenständliche Kompositionen an den französischen Tachismus und verschafften Hugo im 20. Jahrhundert Anerkennung als Vertreter einer mit der Moderne wetteifernden Kunst. Lassen sich also die bildkünstlerischen Werke an seinem großen historischen Roman Notre-Dame de Paris (1831) oder seiner sozialkritischen Arbeit Les Misérables (1862) messen?

Und kann man Wilhelm Busch, dem Erfinder beliebter humoristischer Bildergeschichten wie Max und Moritz, »echtes« Doppeltalent attestieren? Der Künstler selbst charakterisierte seine Landschaftsbilder, die sich zunächst an den niederländischen Meistern des 17. Jahrhunderts orientierten und sich später kühn von diesen Vorbildern emanzipierten, als »G'schmier, wo nicht viel Ehre mit einzulegen ist«. Zeitlebens verbarg Busch die Ölgemälde und Zeichnungen vor der Öffentlichkeit, diese wiederum erkannte deren erstaunliche Modernität: August Macke etwa bezeichnete den Künstler 1912 als den »ersten Futuristen«.

Wissenschaft und Kunstkritik gehen diesen Fragen zu Recht und mit teils widerstreitenden Einschätzungen nach. An dieser Stelle jedoch soll den doppelt Begabten die doppelte Anerkennung zuteil werden – selbst wenn es sich nicht um eine vollkommen ausgewogene Doppelbegabung, sondern womöglich nur um einen »Seitensprung« handelt. In jedem Fall geben bildnerische Werke von Dichterinnen und Dichtern ein tieferes Verständnis der künstlerischen Persönlichkeit, nicht selten ermöglichen sie Rückschlüsse auf das Hauptwerk oder erlauben gar eine umfassendere literarische Deutung.

veröffentlicht am 25.3.2014 – Stefanie Gommel

 

Getaggt mit:
Veröffentlicht am: 03.01.2010