INTERVIEW MIT DR. DIETMAR ELGER

Der Kunstjournalist Stefan Koldehoff im Interview mit Dr. Dietmar Elger, dem Leiter des Gerhard Richter Archivs in Dresden, zu Hintergründen und Entstehung des großen Gerhard Richter Werkverzeichnisses der Gemälde und Skulpturen.

Es gibt bereits eine Reihe von Werkverzeichnissen zum Œuvre von Gerhard Richter: das legendäre erste, das Sie selbst 1986 anlässlich einer Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle bearbeitet haben, wurde fortgeschrieben im Katalog der Bundeskunsthalle 1993 und ergänzt in kleineren Publikationen. Warum gibt es jetzt noch einen Catalogue raisonné der Gemälde?

Weil all das – mit Ausnahme des Düsseldorfer Kataloges – keine wissenschaftlichen Werkverzeichnisse waren, sondern unkommentierte künstlerische Werkübersichten, die Gerhard Richter selbst gestaltet hat, bis hin zum Layout. Weiterführende Angaben zu den Werken gibt es dort aber nicht. 1986 waren Besitzer, Ausstellungen und Literatur gelistet worden, allerdings hatte ich auf Vorschlag von Herrn Richter im Vorwort noch geschrieben, alle Bilder seien rückseitig nummeriert. Das stimmte so natürlich nicht. Also war es dringend an der Zeit, das Werkverzeichnis zum einen zu aktualisieren und zum anderen auf einen wissenschaftlicheren Stand zu bringen und zusätzliche Informationen wie die Provenienz der Werke anzugeben, neue Besitzerangaben zu ergänzen, möglichst komplette Informationen zu Ausstellungen und Literatur sowie einige Kommentare und Vergleichsabbildungen hinzuzufügen.

Gab es dazu schon Vorarbeiten im Atelier Richter? Karteikarten zum Beispiel oder eine Computerdatei?

Nein, das gab es nicht. Herr Richter hat seine Werke immer nummeriert, Entstehungsjahr und Maße notiert und entsprechend aufgelistet. In dieser Liste gab es oft auch Hinweise darauf, wohin die Bilder gegangen sind. Das endete aber häufig schon bei den Galerien, die sie aus dem Atelier übernahmen, so bei Anthony d'Offay, Marian Goodman oder Fred Jahn.

Waren die Übersichten eine Art der Selbstvergewisserung über das, was entstanden ist?

Ja, genau. Sie gibt es im Atelier auch weiterhin. Herr Richter führt eine Liste mit kleinen Abbildungen, die auf Karton geklebt werden, und erhält auf diese Weise einen guten Überblick über sein künstlerisches Schaffen.

Im Vergleich zum ersten Werkverzeichnis haben Sie jetzt erstaunlicherweise auch viele frühe Ausstellungen ergänzen können. Waren die 1986 noch nicht auf dem Schirm?

Ja, mir war damals vieles durchgegangen. Dass ich das jetzt ergänzen konnte, hängt natürlich auch mit der Zeit zusammen, die ich mir jetzt für die Recherche nehmen konnte. Damals ist das Werkverzeichnis in anderthalb Jahren entstanden. Inzwischen gibt es über das Internet, aber auch über Bibliotheken, ganz andere Recherchemöglichkeiten. Auch die Suche nach antiquarischen Katalogen ist durch das Internet sehr viel effektiver geworden, als sie es früher war. 1986 hatte ich gedacht, ich hätte alles gefunden. Doch wurde ich schnell enttäuscht, weil ich merkte, dass doch manches fehlte. Ich würde sagen, dass ich an frühen Gruppenausstellungen bestimmt das Doppelte von dem gefunden habe, was ich zur Zeit des 1986er-Katalog hatte verzeichnen können.

Wie schwierig ist es, die Provenienzen zu rekonstruieren? Wie bereit sind Privatsammler und Händler, Namen zu nennen? Stößt man da nicht schnell an Grenzen?

Das wird man bei keinem Künstler vollständig rekonstruieren können. Es gab zwei Punkte, bei denen ich selbst Zweifel hatte, ob ich das Werk von Gerhard Richter ausreichend durchdringen würde. Das waren zum einen die Provenienzen und zum anderen die Angaben zu den Beschriftungen auf den Rückseiten der Bilder. Denn auch dafür war ich ja darauf angewiesen, Informationen von den Besitzern, vor allem auch den Privatsammlern, zu erhalten. Schließlich war ich selbst überrascht, dass es in beiden Punkten sehr gut funktioniert hat.

Sammler haben also für Sie Ihre Richters von der Wand genommen und nachgeschaut?

Zum Teil war das so. Übrigens war die Recherche bei den Museen, obwohl sie ja professioneller organisiert sein sollten, oft nicht einfacher. Zum Teil habe ich entsprechende Informationen auch in meinen alten Unterlagen von 1986 gefunden; damals habe ich sie aber nicht verwendet. Außerdem laufe ich seit etwa acht Jahren über die Kunstmessen, alle kennen mich schon und wissen: Das ist der, der immer die Rückseiten der Bilder fotografieren will. Inzwischen habe ich Aufnahmen von mehr als sechshundert Rückseiten.

Was ist so interessant daran?

Es gibt zum Beispiel abstrakte Werke, bei denen die Nummern in zwei Richtungen auf der Rückseite stehen. Das Bild kann also so oder so gehängt werden. Es gibt Titel, die von den bekannten abweichen. Bei Porträts zum Beispiel stehen manchmal noch Namen als Titel auf der Rückseite, die Herr Richter später anonymisiert hat.

Und welchen Titel haben Sie dann genommen?

Den, der in der Werkliste des Künstlers steht. Auch wenn er manchmal von früheren Titeln abweicht, sogar wenn die Bilder zunächst unter anderen Titeln ausgestellt worden sind. In den Kommentaren zu den Bildern weise ich im Catalogue raisonné aber auf solche Änderungen hin.

Konnten Sie auf diese Weise auch Missverständnisse korrigieren?

Ja, das gab es auch – bei einem Auto zum Beispiel. Das Bild heißt Alfa Romeo (mit Text), aber es ist gar kein Alfa, sondern eine Corvette. Da hat mich ein Autoexperte drauf aufmerksam gemacht. Er hatte sogar die Vorlage, nach der das Gemälde entstanden war, in einer Fachzeitschrift gefunden. Im Catalogue raisonné ist diese Vorlage jetzt auch abgebildet. Den Originaltitel von Herrn Richter habe ich in diesem Fall trotzdem beibehalten. Ich konnte allerdings zahlreiche Datierungen korrigieren – weil ich zum Beispiel herausgefunden habe, dass die Zeitschriften, aus denen die Bildvorlagen stammen, erst nach dem angeblichen Entstehungsjahr publiziert worden waren, oder weil Bilder auf den Rückseiten präzise auf den Tag datiert sind, allerdings in ein anderes, als das bislang bekannte Jahr.

Es sind auch verschwundene Werke wieder aufgetaucht ...

Mehrere, zum Beispiel ein Soraya-Bild. Ich wusste, dass es das Werk gab, von dem aber nicht einmal eine Abbildung vorhanden war. Vor ein paar Monaten hat sich dann die Galerie gemeldet, die den Nachlass der ehemaligen Besitzerin betreut. Und nun gibt es nicht nur ein Foto, sondern auch die kompletten Informationen zur Provenienz. Als der erste Besitzer davon erfuhr, hat er sich darum bemüht, das Bild zurückzukaufen. Ein merkwürdig rosafarbenes Bild ... Insgesamt enthält allein der erste Band rund zehn Prozent bislang unbekannte oder zusätzliche Werke oder Bilder, die hier erstmals abgebildet werden.

Erstaunlich viele aktuelle Besitzer haben zugestimmt, dass ihr Name genannt wird.

In Amerika mehr als bei uns in Europa. Da gibt es immer noch einen kulturellen Unterschied. Viele kleinere Käufer sind naturgemäß empfindlicher als die großen internationalen Sammler. Das kann ich aber auch nachvollziehen. Da gibt es Familien, die in den 1960er-Jahren ein Bild noch direkt im Atelier gekauft haben. Und so kommen Sie heute manchmal in erstaunlich bescheidene Wohnungen, und da hängen dann ein Uecker, Graubner oder ein Richter. Die Besitzer möchten natürlich nicht gern, dass das an die Öffentlichkeit kommt.

2002 haben Sie auch Gerhard Richters Biografie geschrieben und sind dabei dem Menschen Gerhard Richter sehr nahe gekommen. Jetzt geht es überwiegend ums Werk. Haben Sie durch seine Bilder auch Neues über den Menschen Gerhard Richter erfahren?

Ich habe viel über seinen Umgang mit dem eigenen Werk gelernt – über seine Entscheidungen etwa, verschiedene Bilder nicht ins Œuvre aufzunehmen. Es gibt Richter-Bilder, die fehlen, denn es handelt sich bei meiner Arbeit ja nicht um das »Werkverzeichnis der Gemälde«, sondern um das »Werkverzeichnis der nummerierten Werke«. Und eine Nummer bekommt nur, was Richter als Werk anerkennt. Das ist ein vom Künstler festgelegter Werkblock – vor allem natürlich Bilder in Öl auf Leinwand und Objekte, aber auch Bilder in Öl auf Papier, Bleistift auf Leinwand, Bleistift auf Papier – auch solche Arbeiten haben zum Teil eine Werknummer und damit auch eine bestimmte künstlerische Wertigkeit für Gerhard Richter. Und es gibt Entscheidungen gegen bestimmte Arbeiten, die keine Nummer bekommen haben.

Zum Beispiel?

Das sind manchmal Geschenke, die er herausgegeben hat. Auch Dinge, die er eigentlich wegwerfen wollte, bei denen aber jemand sagte: Gib's doch mir. In den 1960er-Jahren war er manchmal zu großzügig und hat geantwortet: Dann nimm's. Später kamen solche Produkte doch auf den Markt. Wenn die Auktionshäuser dann nach einer Werknummer fragten, hat Herr Richter das natürlich verweigert.

Es gibt aber auch eine Reihe von Werken, die jetzt eine erhalten hat.

Manchmal hatte Herr Richter sie einfach vergessen. Es gibt andererseits aber auch Bilder, die eine Nummer haben, in seiner Bilderliste allerdings versehentlich als zerstört stehen – es aber offensichtlich nicht sind.

Kann ein nicht nummeriertes Bild trotzdem ein gültiges Richter-Bild sein?

Ich werde manchmal danach gefragt und gebe die Frage an Herrn Richter weiter. Meine Antwort an den Besitzer ist dann oft: Gerhard Richter bestreitet nicht, dass dies ein Bild von ihm ist. Er vergibt dafür aber keine Werknummer.

Wie reagiert der Markt darauf?

Auch solche Bilder werden gehandelt. Es gibt zum Beispiel einen Akt, kein schönes Bild, arg süßlich. Trotzdem hat er auf einer Auktion einen hohen Preis erzielt. Inzwischen hat das Bild auch eine Werknummer erhalten.

Viele Jahre lang hat es immer wieder geheißen, die Motive spielten bei Gerhard Richter keine große Rolle – viele seien Zufallsfunde aus Zeitungen oder Zeitschriften. So dokumentiert sie sein »Atlas« ja auch. Tatsächlich gehe es ihm vor allem darum zu sehen, wozu Malerei imstande ist. In den vergangenen Jahren gab es jedoch häufiger Versuche, die Bilder von Gerhard Richter auch autobiografisch zu interpretieren. Ist das ein richtiger Ansatz?

Ja, das habe ich zum Teil auch getan. Wenn Sie verschiedene Fotos vor sich liegen haben und entscheiden, eines davon zu malen, dann ist das vermutlich nie eine ganz zufällige Entscheidung. Dazu gibt es dann auch einen Hintergrund, den man als Betrachter aber gar nicht unbedingt wissen muss. Nehmen Sie das Gemälde mit dem Wäschetrockner: ein schwarz-weißes Bild im Bild, ein Bild mit Text, mit Preis, bei dem der kommerzielle Aspekt mit reinkommt, den Richter damals gern in seinen Gemälden gehabt hat, ähnlich der amerikanischen Pop-Art eines Andy Warhols. Und doch gibt es eine zweite Ebene: Irgendwann hat Herr Richter einmal erzählt, das Foto hätte ihn erschreckt, weil das genau der Wäschetrockner gewesen sei, den er damals auch in seiner Ein-Zimmer-Wohnung gehabt hatte. Das aber weiß keiner, der das Bild heute sieht. Bei Liedtexten ist es ja nicht anders: Vieles hat einen persönlichen Hintergrund. Wer das Lied dann später im Radio hört, weiß davon aber nichts. Man muss nicht jedes Gerhard-Richter-Bild biografisch deuten. Es kann aber ein legitimer Ansatz sein, neben den zahlreichen bisher favorisierten kunsttheoretischen Ansätzen.

Wo beginnt das Werk von Gerhard Richter. Es gibt ja Gemälde, die vor der Nummer eins Ihres Werkverzeichnisses, dem Tisch, entstanden sind.

Die Entscheidung, was zu seinem Œuvre gehört, trifft Gerhard Richter durch die Vergabe einer Werknummer. Er hat entschieden, wann das begann, was er als sein Werk gelten lassen will. Und da gehören zum Beispiel die Bilder, die in der DDR entstanden waren, nicht mit zu. Es gibt aber auch zahlreiche Bilder, bestimmt 200, die schon im Westen entstanden sind, und trotzdem nicht Teil seines offiziellen Œuvres geworden sind. Das war seine künstlerische Entscheidung. Übrigens ist im Werkverzeichnis wohl auch der Tisch nicht das Bild, das er als erstes gemalt hat, auch wenn es die Nummer eins trägt. Es gibt eine Äußerung von Gerhard Richter, die bestätigt, dass die Werke Mund und Nase früher entstanden sind. Aber der Tisch wirkt durch die nachträgliche Übermalung des Motivs natürlich experimenteller, noch suchend, mehr wie ein Anfang.

Sind Ihnen die Kriterien für Aufnahme oder Nicht-Aufnahme klar geworden?

Nein, nicht immer. Es gibt zum Beispiel ein völlig abstraktes Werk, eine grau bemalte Holzplatte, in deren Mitte offenbar ein Tesastreifen abgezogen wurde, sodass man an dieser Stelle den offenen Untergrund sehen kann. Oben ist ein Haken angebracht – ganz merkwürdig, völlig fremd, auch im Kontext der Werke, die davor und danach kommen.

Es bleibt ein Rest von Rätsel?

Ja. Es gab ja auch Bilder, bei denen ich nachgefragt habe, ob wir sie nicht aufnehmen sollten. Ein Porträt der Eltern des Galeristen Heiner Friedrich ist so ein Beispiel. Das Gemälde hatte lange keine Nummer und hat jetzt nicht nur eine bekommen, sondern auch noch einen neuen Titel, der nicht mehr so sehr auf den Porträtcharakter des Bildes verweist, sondern auf den Schriftzug »Casino«, der im Hintergrund zu sehen ist.

Was war der höchste Betrag, den man Ihnen geboten hat, damit Sie doch noch irgendwo eine Nummer loseisen?

Leider gar nichts (lacht). Es gab bislang keine »Bestechungsversuche«. In solchen Fällen muss man aber auch standhaft bleiben, sonst wird die eigene wissenschaftliche Arbeit schnell nicht mehr ernst genommen. Wohin solche Versuchungen die Kollegen führen können, lesen wir im Moment ja bei der Berichterstattung über die sogenannte Sammlung Jägers.

Gibt es ein Fälschungsproblem?

Ja, das gibt es – in allen Medien. Bestimmte Bilder tauchen immer wieder auf. Offenbar gibt es regelrechte Werkstätten, die sich auf Richter spezialisiert haben – in Düsseldorf zum Beispiel, was eigentlich erstaunlich ist, weil es so nah bei Köln liegt und sich Werke hier so einfach überprüfen lassen. Ich dokumentiere diese Fälle im Archiv.

Sie haben 2003 mit den ersten Arbeiten begonnen und danach parallel für alle geplanten fünf Bände recherchiert. Wie weit sind Sie mit dem nächsten Band?

Ziemlich weit. Einige Nachrecherchen muss es noch geben, gerade was dokumentarische Fotos und Rückseiten angeht. Aber die gesamte Literatur und die Provenienzen sind fertig. Ich rechne für 2013 mit dem nächsten Band – je früher, desto besser. Das wird dann aber nicht Band 2 sein. Den habe ich nach hinten verschoben, weil es für die Zeit Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre so unglaublich viel Material gibt: viele graue Bilder, viele Vermalungen. Diese sind nicht einfach zu recherchieren. Da sind die frühen gegenständlichen Bilder einfacher. Die Reihenfolge lautet also 1, 3, 4, 2 und dann 5.

Der letzte Band soll bis 2018 gehen. Weiß Gerhard Richter das?

Na klar, und irgendwann muss es als Nachtrag natürlich noch einen sechsten Band geben. Zurzeit ist er jedenfalls so produktiv, dass ich fast befürchte, dass schon der fünfte Band als Doppelband erscheinen muss. Er würde bei Erscheinen 2018 immerhin fast 20 Schaffensjahre umfassen.

20.09.2011

 

Veröffentlicht am: 20.09.2011