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INTERVIEW MIT JUDITH RAUM
Judith Raum, geboren 1977 in Werneck, ist eine vielseitige Künstlerin, deren Werke ihre Faszination für die Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft widerspiegeln. Anhand von Malereien, Installationen und Performances erforscht sie komplexe Themen, von der sozialen und wirtschaftlichen Geschichte bis hin zu philosophischen Fragestellungen. Mit einem Fokus auf die Verflechtungen des textilen Mediums und der Tradition des Bauhauses hat sie in renommierten Institutionen wie der Stiftung Bauhaus Dessau, der Villa Romana in Florenz und dem Heidelberger Kunstverein ausgestellt.
Im Hatje Cantz Verlag erscheint Judith Raums spannendes Buchprojekt Otti Berger – Weaving for Modernist Architecture. Das Buch schließt Raums mehrjähriges Kooperationsprojekt mit dem Bauhaus-Archiv Berlin ab, für das sie Bergers auf Archive weltweit verstreuten Nachlass erstmals umfassend erforscht hat.
Im Interview mit Hatje Cantz spricht Judith Raum über die Vorgehensweise und Herausforderungen ihrer künstlerischen Forschung und unerwartete Entdeckungen.
Hatje Cantz: Wie haben Sie Otti Bergers Werk und ihre Bedeutung als Textilgestalterin entdeckt und was hat Sie dazu inspiriert, ein Buch über sie zu schreiben?
Judith Raum: Ende 2016 war ich im Rahmen einer Tourneeausstellung zu zeitgenössischen künstlerischen Positionen im Textilen vom ifa-Institut Berlin dazu eingeladen, eine künstlerische Arbeit zur Textilwerkstatt am Bauhaus zu entwickeln. Die Entscheidung, mich auf die Gebrauchsstoffe des Bauhauses zu konzentrieren und nicht mit Unikaten wie Wandbehängen oder Teppichen zu arbeiten, war schnell gefallen, aber damals schloss das Bauhaus-Archiv Berlin gerade seine Türen für die anstehende Renovierung und ich konnte nur noch zu zwei Terminen einige wenige originale Stoffe sehen. Um die Möbelstoffe, Wandstoffe, Vorhangstoffe und Bodenbeläge, die mich interessierten, zu sehen, musste ich also auf andere Sammlungen ausweichen. Das Archiv der Moderne in Weimar besitzt einen größeren Bestand an Vorhangstoffentwürfen von Otti Berger von 1932. Dort war ich zum ersten Mal von der Klarheit und zeitlosen Eleganz ihrer Stoffe beeindruckt. Ich ließ einen dieser Vorhangstoffe damals neu weben, und es entstand eine erste Videoarbeit zu Bergers Werk, für die ich weitere Entwürfe von ihr in den Harvard Art Museums und im TextilMuseum Tilburg gesichtet hatte. Ich habe mich immer im Austausch mit Textildesignerinnen mit Bergers Werk beschäftigt. Von Anfang an war dabei wichtig, ihre gestalterischen Anliegen auch (web-)technisch zu verstehen. Irgendwann wurde mir klar, dass diese spezifische Kenntnis ihres Werks nirgendwo mehr bestand. Durch Bergers jähe Ermordung in Auschwitz war ein Fortleben und Verständnis ihres Werks über ihren Tod hinaus ja zunächst verunmöglicht worden. Und so fiel die Entscheidung, die Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich mit Kolleginnen aus dem Textildesign über ihren Stoffen machte, in ein Buch über ihr Werk zu verwandeln. Eine ausführliche Monografie, die diese herausragende Gestalterin wirklich verdient.
HC: Welche Herausforderungen haben Sie während Ihrer Forschungsarbeit zu Otti Berger erlebt, insbesondere im Hinblick auf die Sichtung ihres Nachlasses und den Zustand der textilen Arbeiten?
JR: Bergers Werk wurde nach ihrem Tod auf unterschiedlichste Sammlungen in Europa und den USA verteilt. Stücke, die eigentlich vom Arbeitsprozess her eng aufeinander aufbauen oder direkt zusammengehören - wie zum Beispiel technische Zeichnungen zu Stoffen und die dazugehörigen Originale - befinden sich heute an unterschiedlichen Orten. Auch wurden Bergers Stoffmuster in 90 Prozent der Fälle nicht von ihr etikettiert oder beschriftet, was bedeutet, dass nicht klar ist, mit welcher Art Stoff man es zu tun hat, wenn man die eine oder andere kleinformatige Stoffprobe in Händen hält. Sie müssen sich vorstellen, dass der Großteil der erhaltenen Stoffmuster nicht größer als eine Postkarte ist, wenn überhaupt. Die größte Herausforderung war also, diese Stoffstückchen in die Hand zu nehmen, ihr Verhalten bei Benutzung nachzuempfinden, ihren konstruktiven Aufbau zu verstehen, und aus beidem Rückschlüsse auf ihre ursprünglich zugedachte Funktion zu ziehen: Haben wir es mit einem Wandstoff zu tun (der steif, plan aufspannbar, robust und abwaschbar sein sollte), mit einem Möbelstoff (der extreme Belastung und Reibung aushalten muss und möglichst staubundurchlässig sein soll) oder etwa mit einem temperaturisolierenden Vorhangstoff (der möglichst dicht gewebt sein muss, gleichzeitig aber gut fallen soll)? Die besitzenden Sammlungen konnten bislang keine Forschung zu Bergers Werk finanzieren, weshalb die existierenden Datensätze bei der Frage nach der Funktion, nach dem Was und Warum der Stoffe, keine große Hilfe waren. Gemeinsam mit der Handweberin Katja Stelz, die die Gewebeanalysen an Bergers Stoffen vornahm, haben wir hier viele Wissenslücken schließen können. Vor allem konnten wir durch das Bemühen, Bergers Werkstattlogik zwischen 1932 und 1938 möglichst genau zu verstehen, Zusammenhänge zwischen Stücken, die an unterschiedlichen Orten aufbewahrt werden, herstellen.
HC: Inwiefern hat Ihre eigene künstlerische Praxis und Ihre Erfahrung mit Rauminstallationen und Performances Ihre Herangehensweise an die Untersuchung von Otti Bergers Stoffen und deren Wirkung im Raum beeinflusst?
JR: Ich bin durch meine Ausbildung als Malerin mit Schwerpunkt auf abstrakter Malerei offensichtlich so geprägt, dass mich die abstrakte, monochrome Qualität von Bergers Stoffen besonders angesprochen hat. Aber dann musste der Schritt passieren, diese Qualitäten in größeren Formaten zu zeigen, also wieder räumlich wirken zu lassen, so wie Berger das für ihre Stoffe vorgesehen hatte. Sie hat ja ausschließlich für den architektonischen Zusammenhang entworfen. In Form von großformatigen Neuwebungen können die Stoffe eine ganz andere Kraft entfalten, als sie das als kleine Muster, eingeheftet in Musterbüchern und auf dem Archivtisch ausgebreitet - tun. In meinen Installationen, Performances und Videoarbeiten geht es darum, den Stoffen wieder etwas von ihrer Ausdruckskraft zurückzugeben, sie vielfältig zu kontextualisieren, und sie auch unterschiedlichen Formen von Berührung auszusetzen. Die Stoffe werden zur Projektions- und Angriffsfläche für unterschiedliche Aspekte, die in sie hineinspielen, mit denen sie eng zusammenhängen: Bergers eigene Biografie und zeithistorische Umstände, die nationalsozialistische Politik, ihre brutalen Auswirkungen auf den Berufsalltag von Kunsthandwerker*innen und Architekt*innen, wirtschaftspolitische und textilindustrielle Entwicklungen der Zeit, patentrechtliche Fragen...
HC: Können Sie einige Erkenntnisse oder überraschende Entdeckungen teilen, die Sie während der intensiven Auseinandersetzung mit Otti Bergers Werk gewonnen haben?
JR: Einer der intensivsten Momente war vielleicht der, als wir die große, rot-schwarz-weiße Tagesdecke aus dem Besitz von Walter und Ise Gropius, die in der Sammlung des Bauhaus-Archiv Berlin erhalten ist, auf ein Modell des Tagesbettes von Marcel Breuer aufbrachten, für das Otti Berger sie entworfen hatte. Sie müssen sich vorstellen, dass zu dieser Decke außer Bergers Autorschaft vorher wenig klar war. Sie wurde trotz ihrer schweren Qualität und ihrer beeindruckenden Abmessung als ‚Flügeldecke‘ geführt, und sie war bislang nur plan ausgestellt worden. Auch wir konnten sie für die Gewebeanalysen zunächst nur flach von der Rolle gerollt einsehen. In Harvard existieren aber Briefe zwischen Gropius und Berger, die eindeutig beweisen, dass Berger die Decke auf Wunsch von Walter Gropius für ein Daybed von Breuer in seinem Besitz entwarf, und zwar exakt an die Maße dieses Möbels angepasst. Das heißt das jedes gestalterische Element der Decke - ihr Format, ihre Flächengestaltung, ihre Farbgebung und die stark dreidimensionale, diagonal verlaufende Oberflächenstruktur des Gewebes - erst Sinn macht, wenn die Decke auf dem Möbel liegt. Es war die Idee von Katja Stelz, das auszuprobieren, und so baute ich ein millimetergenaues Modell das Bettes, das heute im Gropius House in Massachusetts steht, und die Decke kam für wenige Stunden auf dem Möbel zu liegen und wurde so von Uta Neumann für die Publikation fotografiert. Die Wirkung war wirklich atemberaubend, die Decke bearbeitete das Thema Raum auf allen möglichen Ebenen. Ein anderes, sehr berührendes, persönliches Erlebnis passierte während unseres Aufenthalts in Chicago, wo wir Bergers Stoffe im Art Institut Chicago analysierten: Abends schauten wir zur Entspannung einen Western-Klassiker des von mir sehr verehrten John Fords. Stagecoach, von 1939. Und während der Abspann läuft, wird mir plötzlich klar: eine Notiz, die ich auf einem handgeschriebenen Brief von Ludwig Hilberseimer an Otti Berger die ganze Zeit nicht hatte entziffern oder zuordnen können, lautet genau auf diesen Filmtitel: Stage Coach. Der Architekt und Städteplaner Hilberseimer, Bergers Lebenspartner, 1938 nach Chicago emigriert, hatte den Titel zusammen mit anderen Filmtips offensichtlich am Rand des Briefes für sie festgehalten. Und wir waren mitten hineingeraten.
Die interessanten Erkenntnisse aus Judith Raums umfassender künstlerischer Forschung sind in der Neuerscheinung Otti Berger – Weaving for Modernist Architecture nachzulesen. Das Buch ist auch als zweisprachige Ausgabe mit einem deutschsprachigen Beileger erschienen.
Das Gespräch mit Judith Raum führte László Rupp für Hatje Cantz im April 2024.
Headerbild: Judith Raum © Konrad Langer