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INTERVIEW MIT INGRID PFEIFFER
»Sie wollten nicht vom Anderssein geheilt werden. Erst wenn das Vergessene und Verdrängte, das Verbotene und Verschüttete, das Schmutzige und das Chaotische ans Tageslicht kämen, bestand für sie Hoffnung auf einen moralisch und politisch geläuterten Menschen.« ⸺ Der Kunstkritiker Christian Huther im Gespräch mit Ingrid Pfeiffer, der Kuratorin von Surreale Dinge in der Schirn Kunsthalle Frankfurt.
Schaufensterpuppen mit einem Vogelkäfig auf dem Kopf oder mit einem großen Käfer im Mund sind ja etwas ungewöhnlich. Aber die Surrealisten wählten diese 1938 als Auftakt für eine Ausstellung in Paris. Weshalb?
An den 16 sogenannten Mannequins konnten sie gut ihre Themen illustrieren, etwa die gefesselte Begierde und die unbewussten Triebe, den Tabubruch und das Träumerische.
Nun sind die Mannequins in der Schirn zu sehen, leider nur als Fotos, da die Puppen damals wieder zurückverwandelt wurden. Landauf, landab gibt es heute Ausstellungen zum Surrealismus. Was ist anders an Ihrer Präsentation?
Man glaubt immer, dass eine so bekannte Kunstrichtung umfassend erforscht sei. Allerdings stieß ich vor zwei Jahren bei der Suche nach Skulpturen der Klassischen Moderne darauf, dass die Objekte der Surrealisten noch nie umfassend präsentiert worden waren. Und mir fiel auf, dass diese Objekte weitaus heutiger wirken als die Gemälde, die uns eher historisch erscheinen. Die Objekte strahlen eine Frische aus, sie haben fast etwas Zeitgenössisches. Leider wird ihnen in der einschlägigen Literatur meist nur ein kurzes Kapitel gewidmet.
Aber der Surrealismus war doch eher auf Literatur oder Malerei konzentriert. Wie und wann kam der Umschwung?
Um 1929/30, vor allem als Salvador Dalí sich der surrealistischen Gruppe anschloss, entwickelte sich eine Konzentration auf das Objekt. Erstmals waren 1933 in einer Pariser Ausstellung vermehrt Objekte zu sehen. Damals war schon Alberto Giacometti beteiligt, der seine Werke als »bewegliche und stille Objekte« bezeichnete. Das gefiel den Surrealisten, da ihnen die Bezeichnung Skulptur zu sehr mit Ästhetik behaftet war. Giacometti, der einige Jahre mit der Gruppe assoziiert war, schuf sehr subtile Werke. Die schwebende Kugel etwa besteht aus einer Kugel, die beinahe eine Art Scheibe berührt.
Das Werk ist erotisch aufgeladen und sehr geheimnisvoll. Solche Objekte sahen die Surrealisten als Inbegriff des psychologischen Moments, des Vielleicht, des Könnens, des Wollens, des unerfüllten Begehrens. »Désir c'est la grande force« (Das Verlangen ist die große Kraft), schrieb etwa André Breton in Anlehnung an Apollinaire. Das ist das Thema der Surrealisten ab den 1930er-Jahren. Es gab eine regelrechte Flut an Objekten, denn Breton, der »Papst der Surrealisten«, forderte explizit deren Schaffung und ermutigte die Künstler, sich vom Alltag inspirieren zu lassen und auf Flohmärkte zu gehen, um Material zu suchen.
Wie viele Werke zeigen Sie?
Rund 180 Werke von 51 Künstlern. Davon 110 Objekte und 70 Schwarz-Weiß-Fotografien. Viele Objekte sind zerstört, aber wir kennen sie von Fotos, wie beispielsweise Kurt Seligmanns Hocker aus Frauenbeinen, eine Inkunabel des Surrealismus.
Freilich produzierten auch die Dadaisten Objekte. Wo ist der Unterschied?
Die Dadaisten übten direkte und ätzende Kritik am Krieg, an der Gesellschaft und der Politik. Deutlich machen wir dies in der Schau eingangs am Wildgewordenen Spießer Heartfield von George Grosz und John Heartfield aus dem Jahr 1920, einer Schneiderpuppe, deren rechtes Bein amputiert ist und die anstelle eines Kopfes eine Glühbirne trägt als Zeichen dafür, dass der Spießer keinen Verstand hat, sondern manipulierbar ist. In dieser kritischen Tradition standen auch die Surrealisten, aber sie gingen literarischer, subtiler, erotischer und träumerischer damit um. Sie wollten nicht abbildhaft die Realität spiegeln, ihnen ging es um Transformation, Metaphorik, Kombinatorik. Und die Dadaisten verwendeten eher männliche, die Surrealisten weibliche Puppen. Den Surrealisten galt die Frau als Projektionsfläche. Breton meinte 1953: »Im Surrealismus wird die Frau geliebt und verherrlicht als das große Versprechen, das Versprechen, welches fortbesteht, nachdem es erfüllt worden ist.«
Die Erotik war das Hauptthema?
Ja, aber das wurde selten platt dargestellt, sondern subtil gebrochen. Die Surrealisten hatten ein komplexes Verhältnis zu Frauen, deren Körper in den Werken oft zerlegt wurde. Wir haben in der Ausstellung Rümpfe, Köpfe, Hände und Füße oder Fetische in jeglicher Form. Dalí etwa machte einen roten Schuh seiner Muse Gala zu einem Objekt.
Wie wichtig war Sigmund Freud für die Surrealisten?
Sie rezipierten zwar sein Werk, nutzten es aber nur als kreativen Steinbruch. Freud wollte die Menschen von ihren Psychosen und anderen Problemen heilen. Die Surrealisten wollten eine Erweiterung der Wahrnehmung, der Erlebnisse. Sie wollten nicht vom Anderssein geheilt werden. Erst wenn das Vergessene und Verdrängte, das Verbotene und Verschüttete, das Schmutzige und das Chaotische ans Tageslicht kämen, bestand für sie Hoffnung auf einen moralisch und politisch geläuterten Menschen.
Was sagten die Künstlerinnen dazu? Beschäftigten sie sich auch mit der Erotik und mit dem weiblichen Körper? Und wie viele Künstlerinnen zeigen Sie?
Anfangs waren hauptsächlich die Freundinnen und Ehefrauen der Surrealisten dabei, später auch Künstlerinnen. Teilweise nahmen auch sie das Thema Erotik auf, aber eher ironisch. Ohnehin geht es bei den Surrealisten immer wieder um Humor und Erotik. Aber ich will das ganze Spektrum der Bewegung zeigen, also die Internationalität, die unterschiedlichen Herangehensweisen und Materialien sowie die Assoziationen, die vom Alltäglichen über das Erotische bis zum Traumhaften reichen können. Wir präsentieren zwölf Künstlerinnen, das ist sehr viel dafür, dass sich die Schau auf das Objekt konzentriert.
Welche Materialien verwendeten die Surrealisten?
Fast alles, Selbstgestaltetes ebenso wie Fundstücke vom Flohmarkt oder von der Natur veränderte Steine. Entscheidend war nicht das Material, sondern die psychologische Wirkung. Deshalb war es für die Surrealisten relativ einfach, Objekte zu machen. Jeder konnte sich mit einer kleinen Arbeit an den Ausstellungen beteiligen.
Wie wurden die Werke damals präsentiert? Wie Kunst oder wie Alltagsobjekte?
Anfangs traditionell auf Sockeln, später stand etwa Dalís Aphrodisisches Telefon auf einem Tischchen neben Pfefferminzlikör und Gläsern. Die berühmteste Surrealisten-Schau 1938 in Paris geriet gar zu einer interaktiven Installation. Im Eingangsbereich stand Salvador Dalís Regentaxi, darinnen eine Schaufensterpuppe, die mit Wasser berieselt wurde. Der folgende lange Korridor führte an den schon erwähnten 16 Puppen vorbei. Erst dann kam der Hauptraum mit Objekten wie Dalís Telefon oder Wolfgang Paalens Regenschirm aus Schwämmen. Eine gewisse Stimmung entstand auch dadurch, dass man die Schritte marschierender Soldaten hörte, Kaffeegeruch wahrnahm und von der Decke herab Kohlenstaub aus alten Säcken rieselte. Also kein White Cube, sondern eine Mischung aus Wohnzimmer und Geisterbahn.
Und wie präsentieren Sie jetzt diese Werke?
Wir versuchen einen zeitgemäßen Mittelweg und haben schwarze Sockel gebaut, die sich an Möbel der damaligen Zeit anlehnen. Darauf werden in Gruppen die Objekte präsentiert, ohne Abdeckung, anders als im Museum sonst üblich, aber dennoch einen gewissen Sicherheitsabstand wahrend. Zusammen mit der dunkelroten Samttapete soll in den sechs Räumen eine zimmerartige Atmosphäre erzeugt werden.
Haben Sie auch Entdeckungen gemacht und unbekannte oder vergessene Künstler und Werke in der Ausstellung?
Die Bewegung wird ja als vorwiegend französisch angesehen, aber in den 1930er-Jahren wurde sie international. In der Schau sind mindestens ein Drittel der Künstler unbekannt oder vergessen, beispielsweise die Engländerin Eileen Agar mit ihrem Engel der Gnade. Wir zeigen sogar vier Arbeiten von Breton, von dem nur selten etwas zu sehen ist. Nicht zu vergessen Enrico Donati, der 1947 zusammen mit Marcel Duchamp auf das Cover eines Ausstellungskataloges eine weibliche Brust aus Schaumstoff klebte, sie bemalte und auf der Rückseite des Buches forderte: »Bitte berühren«. Dieses klassische surrealistische Objekt reißt den Betrachter hin und her zwischen: Darf ich? Soll ich? Kann ich? Will ich? Es wünscht die Partizipation des Betrachters und verhindert sie zugleich.
Sie erwähnten bereits eingangs die Aktualität der Werke ...
Ja, die Ausstellung soll die Vielfalt und die Aktualität der Objekte zeigen. Auch für die heutige Kunst gilt die oft von den Surrealisten zitierte Wendung des Dichters Isidore Ducasse, »schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«. Nur findet mittlerweile das Rendezvous von Nähmaschine und Regenschirm mit anderen Materialien statt. Die Schau soll den Blick schärfen für die Innovationen der Surrealisten, die uns bis heute beschäftigen, etwa dass der Betrachter ins Werk einbezogen wird oder dass alles kunstwürdig ist.