INTERVIEW MIT FELIX KRÄMER

»Die Idee ist, zunächst einmal die stilistische Breite aufzuzeigen, die für viele überraschend sein wird. Viele Deutsche haben nur den Brücke-Kirchner vor Augen.« ⸺ Endlich ist nach rund 30 Jahren in Deutschland wieder eine Retrospektive auf Ernst Ludwig Kirchner zu sehen – sie verändert das Kirchner-Bild. Kunstkritikerin Dorothee Baer-Bogenschütz sprach mit Kurator Felix Krämer, der die Ausstellung im Städel Museum eingerichtet hat.

Bedeutet die Städel-Schau einen Aufbruch in der Kirchner-Forschung, oder erfolgte die Neubewertung schon im Vorfeld?

Diese erfolgte bereits zuvor, man ist ja immer ein Kind seiner Zeit.

Seit wann wankt das Kirchner-Bild?

Sagen wir, seit Beginn des neuen Jahrtausends. Was mich in der Vorbereitung unserer Ausstellung überrascht hat, ist, dass es seit 30 Jahren keine große Kirchner-Retrospektive in Deutschland gegeben hat.

Ein Gebot der Stunde oder eher Eingebung?

Zufall. Ich kam im Sommer 2008 ans Städel, allerdings nicht mit dem festen Vorsatz, als Erstes Kirchner zu zeigen. Doch in der ersten eingehenden Beschäftigung mit der Sammlung stellte ich fest, wie riesig der Bestand mit rund 400 Arbeiten Kirchners tatsächlich ist. Wir besitzen 280 Druckgrafiken, gut hundert Aquarelle und Zeichnungen sowie fünfzehn Gemälde, zwei Skulpturen und einen Teppich.

Darunter Juwele, die noch keiner kennt. Was hat es mit der Nackten Frau am Fenster auf sich?

Bei ihrer Rückseite handelt es sich um eines der seltenen frühen nicht überarbeiteten Werke. Da das Bild signiert ist, wissen wir, dass es eine abgeschlossene Komposition ist, denn Kirchner signierte seine Werke, wenn er sie ausstellen oder verkaufen wollte. Sowohl das große Format als auch das Motiv seiner damaligen Geliebten Dodo weisen dem Werk einen wichtigen Rang zu. Es wird erstmals öffentlich präsentiert.

Kirchner betrachtete das Triptychon Badende als eines seiner besten Bilder. Es wurde 1933 zuletzt gezeigt, der Grund?

Ganz einfach, die Tafeln sind auf drei Eigentümer verteilt: Die National Gallery of Art in Washington, das Kirchner Museum Davos sowie eine Privatsammlung.

Jetzt werden die Tafeln also nach einem Dreivierteljahrhundert wieder zusammengeführt?

Ja, das Triptychon ist sogar erstmals seit 1926 in Deutschland zu sehen.

Inwieweit schlagen sich Kirchners Existenz und auch die Brüche darin in seiner Kunst nieder?

Das versuche ich zu relativieren. Was wir bei Kirchner sehen, ist nicht unbedingt gemaltes Leben.

Vielmehr hat er fleißig inszeniert und stilisiert?

So ist es. Da entferne ich mich nicht zuletzt von der Rhetorik Kirchners, der glauben machen will, dass das Leben unmittelbar auf ihn wirkt und er den Impuls künstlerisch formuliert.

Dabei empfand er sich als kollossal deutsch wie van Eyck und wollte das auch kommuniziert wissen, und zwar international.

Albrecht Dürer ist sein Held. Er will der moderne Dürer sein. Ich kann mir vorstellen, dass ihm dessen Selbstporträt in München Eindruck gemacht hat als Vorstellung einer Künstlerpersönlichkeit.

Er wollte lieber der neue Dürer sein als der deutsche Picasso?

Genau.

Und ließ sich die stilistische Abstammung von einem französischen Kritiker attestieren, einem fiktiven. Völlig schmerzfrei im Hinblick auf die eigene Legendenbildung, dieser Maler?

Wer damals international etwas gelten wollte, musste in Frankreich erfolgreich sein. Man wollte der französischen Kunst jedoch eine ursächlich deutsche Schule entgegensetzen. Bei Kirchner sehen wir, dass er von Frankreich beeinflusst wird, es aber leugnet. Er erfindet seinen eigenen Kritiker als Kronzeugen. Wenn ein Franzose sagt, dass seine Kunst nichts mit Frankreich zu tun hat, dann können beliebig viele Deutsche Matisse darin sehen.

Wie haben Sie den Ausstellungsparcours angelegt?

Da mich persönlich Kirchners Selbstdarstellung enorm interessiert, durch die er die Rezeption bis heute mitbestimmt, starten wir mit dem Kapitel »Kirchner im Blick«. Die Idee ist, zunächst einmal die stilistische Breite aufzuzeigen, die für viele überraschend sein wird. Viele Deutsche haben nur den Brücke-Kirchner vor Augen. Die Gliederung ist chronologisch, doch innerhalb dieser Abfolge gibt es bestimmte Gruppen. Das zweite Kapitel gilt Kirchners frühen Jahren, das dritte Kirchner in Dresden als Expressionist und das vierte spielt in Berlin. Dazu gehört ein Saal, in dem nur Straßenszenen zu sehen sind, aber auch die Kokotten sowie Bilder, die auf der Insel Fehmarn entstanden. Es folgen Krieg und Zusammenbruch, die ersten Jahre in Davos und Kirchners Spätwerk, der sogenannte »neue Stil«. Insgesamt zeigt die Retrospektive rund 170 Arbeiten, darunter viele hochkarätige internationale Leihgaben.

Lassen Sie sich zu Verrücktem hinreißen wie dem Nachbau des Ateliers?

Ich bin dagegen, Geschichte nachzubauen. Man behauptet damit ja bloß Authentizität. Ich war gerade selbst in Davos. Die Dielen knarren, der Wind pfeift, die Tücher haben nicht mehr den Geruch. Es wäre, wie wenn man Sand ins Museum kippte und Fischernetze auslegte. Sie kriegen trotzdem nicht das Gefühl, am Meer zu stehen.

Oder ein Fisch zu sein und sich frei im Privatesten bewegen zu können.

Eben. Übrigens zeigen wir auch nicht das Bett oder die Hocker, die er geschnitzt hat, das war sein Mobiliar für zu Hause.

Apropos Intimleben: Wie halten Sie es mit den Beziehungen zu kleinen Mädchen, gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Enthüllungen pädophilen Treibens?

Die Textpassagen dazu im Katalog haben viel Zeit beansprucht. In der Ausstellung haben wir eine Werkfolge, die pornografisch ist. Mir geht es dabei um die Rolle der Sexualität bei den jungen Brücke-Künstlern, eine entscheidende Triebfeder.

Fränzi ist acht.

Ich schreibe, dass diese Kinder ausgenutzt wurden. Wir wissen, wie die Ateliers aussahen, dass es da Kopulationsszenen auf Tüchern gab und dass sogar die Ofenkacheln Geschlechtsakte zeigen. Es gibt sehr deutliche Skizzen von Fränzi mit gespreizten Beinen, die ich nicht zeige, weil ich nicht Beifall von der falschen Seite bekommen möchte. Wenn es in der aktuellen Literatur heißt, das Verhältnis zu Fränzi ging über das Platonische wohl hinaus, dann sind solche Formulierungen auf der einen Seite verharmlosend und auf der anderen Seite spekulativ.

Was transportiert die Ausstellung?

Den frischen Blick auf Kirchner. Ich hoffe, dass ihn insbesondere die jüngere Generation neu entdecken wird. Es gab ja 30 Jahre keine Möglichkeit mehr, sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Zu sagen, es gibt nun einen ganz neuen Kirchner, wäre indes vermessen.

Vielleicht aber einen widersprüchlicheren?

Die Widersprüche wurden durchaus thematisiert, jedoch als Problem. Ich sehe sie als Chance. Die Faszination bleibt.

veröffentlicht am 15.3.2010
Veröffentlicht am: 15.03.2010