READYMADE

»... ein Werk (wird) vollständig von denjenigen gemacht, die es betrachten oder es lesen und die es, durch ihren Beifall oder sogar durch ihre Verwerfung, überdauern lassen.« ⸺ Marcel Duchamp, 1956

Dass sich heute noch jemand an Readymades erinnert, hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Und dass das Prinzip der Readymades zur Grundlage eines Stils werden konnte, ist eines der großen Missverständnisse der Kunstgeschichte. Die kleine Werkgruppe dieser zur Kunst geadelten Alltagsgegenstände, die untrennbar mit dem französischen Künstler Marcel Duchamp (1887–1968) verbunden ist, wurde jedoch zum Vorbild der Avantgarde, zum Spielball des Dadaismus und der Surrealisten, zu einer Ikone für Pop Art, Nouveau Réalisme und Konzeptkunst. Niemand wird heute jedoch bedauern, dass die wenigen erinnerten Preziosen, vor allem die aus den Jahren 1913 bis 1919, in irgendeiner Form, als Foto oder als Replik, für die Nachwelt bewahrt wurden. Die Originale sind fast alle verloren. Dennoch haben die Readymades den Kunstbegriff, das Verständnis von Kunst revolutioniert.

Readymades sind, wie das Wort sagt, bereits fertige, vorgefundene Gegenstände, industriell in Serie hergestellt und fast überall erhältlich. Das Konzept Readymade beruht auf der bloßen Auswahl eines dieser x-beliebigen Objekte. Als Marcel Duchamp 1913 mit dem Fahrrad-Rad sein erstes Readymade schuf, war er auf der Suche nach etwas, das weder Kunst noch Anti-Kunst ist, etwas, das sich durch Indifferenz gegenüber allen ästhetischen Kategorien auszeichnet. Er wollte ein Werk schaffen, das kein Kunstwerk ist: ohne künstlerische Gestaltung und damit ohne persönlichen Ausdruck. Er montierte das Vorderrad eines Fahrrads mit der Gabel auf einen Hocker, der niemals Sockel sein sollte. »1914, und auch noch 1915, hatte ich in meinem Studio ein Fahrrad, das sich völlig zweckfrei drehte«, lautet dazu Duchamps Kommentar; und: »Dieser komische Apparat hatte keinen Zweck, außer den Kunstcharakter loszuwerden.« 1914 wollte Duchamp einen Flaschentrockner signieren, den er in einem Pariser Kaufhaus erworben hatte. Beide Objekte wurden nie ausgestellt und gingen nach seinem Umzug von Paris nach New York im Jahr 1915 verloren. Es war nicht Duchamps Intention, die Stücke der Nachwelt zu erhalten. Die ersten Readymades – ein Begriff, der so noch gar nicht existierte - waren nicht mehr und nicht weniger als die privaten Experimente eines Künstlers, der an einer Lösung zur Beseitigung der Kunst tüftelte - ein »Zeitvertreib«, wie er es nannte, voller Ernsthaftigkeit, aber nicht ohne Ironie.

Die Schneeschaufel mit der Inschrift »In advance of the broken arm« von 1915 und der mit Datum und genauer Uhrzeit versehene eiserne Kamm (1916) gehören ebenso wie der am Boden seines Ateliers festgenagelte Kleiderhaken und das Pissoir – Fountain – beide von 1917, zu den reinsten Formen von Readymades. Die schon in New York entstandenen Objekte sind unveränderte Alltagsgegenstände, die von Duchamp hier erstmals als Readymades betitelt wurden und allein durch den Akt der Auswahl zu dem werden, was sie sind. Der Betrachter ist derjenige, so Duchamps Theorie, der das Werk macht. Ausgehend von der Tatsache, dass jeder kreative Akt keine Neuschöpfung aus dem Nichts ist, sondern immer auf etwas bereits Vorhandenes zurückgreift, revolutionierte er mit der zufälligen Findung als Erfindung den Begriff der Kreativität.

Mit dem Prinzip Zufall, das als immer wiederkehrendes künstlerisches Konzept des 20. Jahrhunderts hier seinen Anfang nahm, hat Duchamp auch bei seinen Trois Stoppages-Étalon (1913/1914) experimentiert. Dazu ließ er dreimal einen ein Meter langen, horizontalen Faden aus einem Meter Höhe herunterfallen und fixierte die so zufällig entstandene Form auf jeweils einem Leinwandstreifen. Die akribische Vorgehensweise diese Zufallsexperiments macht die Trois Stoppages-Étalon damit zum Grenzfall im Blick auf die Werkgruppe der Readymades, die eben gerade kein Akt der Gestaltung, sondern eine reine Betrachtungsweise sind. So gesehen ist allerdings auch das Landschaftsbild Pharmacie von 1914, in das Duchamp mit roter und grüner Farbe »zwei kleine Lichter« gesetzt hat, bereits kein pures Readymade mehr. Ebenso wenig die berühmte bärtige Mona Lisa L.H.O.O.Q von 1919, die, zusammen mit ihrem lautmalerischen Titel Elle a chaud au cul (Sie hat Feuer im Hintern), vor allem von den Dadaisten mit einem Jubelschrei begrüßt wurde. Beide zählen, wie auch spätere Werke von Duchamp, zu den veränderten Readymades. Das Spektrum reicht dabei von minimalen Eingriffen wie in Air de Paris (1919) – Duchamp ließ eine Glasampulle aus einer Pariser Apotheke leeren und leer wieder verschließen, um sie seinem New Yorker Freund Arensberg mitzubringen - bis hin zu so komplexen Objekten wie Why Not Sneeze Rrose Sélavy von 1921, ein bemalter Metallkäfig mit Marmorwürfeln, einem Thermometer und einer Fischgräte.

Von einem Konzept der Readymades zu sprechen hieße, sie in einen Kunstkontext zu stellen. Gerade das aber widersprach der Absicht Duchamps. Seine Experimente waren privat und ohne Intention und über zehn Jahre lang bis in die dreißiger Jahre nahezu unbeachtet. Er stellte sie nicht aus - bis auf eine Ausnahme in der New Yorker Galerie Bourgeois 1916: »Ich hängte drei davon an einem Kleiderständer beim Eingang auf, und niemand bemerkte sie - (...) was mir viel Spaß bereitete«, erklärte Duchamp Jahre später. 1917 wird die Fountain, die Duchamp unter dem Namen und der Signatur R. Mutt auf der ersten Ausstellung der Society of Independent Art eingereicht hatte, von der Jury abgelehnt. Duchamp gibt sich nicht zu erkennen. Aus diesem Grund konnten die Readymades eines gewiss nicht sein: Skandalobjekte, eine Geste der Provokation, als die sie von den Dadaisten schließlich an die Öffentlichkeit gezerrt und vereinnahmt wurden. Der Flaschentrockner etwa, im Original längst verschollen, hatte 1936, also 22 Jahre später, auf einer Schau der Surrealisten seinen ersten großen Auftritt, als Replik und in Fotos von Man Ray.

Einmal der breiten Rezeption ausgesetzt, war das ursprüngliche Projekt der Readymades so gut wie gescheitert. Interpretationen gab es nun so viele wie Missverständnisse. Die widersprüchlichen Bewertungen reichten vom radikalen Nihilismus bis zur Bewunderung der ästhetischen Qualität der Objekte. Und gerade die Idee der Indifferenz gegenüber allem Künstlerischem, die Duchamp immer wieder betonte, blieb dabei auf der Strecke. Das private Experiment Readymade geriet zur Inszenierung. Duchamp reagierte. Er beschloss, die Stückzahl der Readymades gering zu halten. Heute sind nur etwa ein Dutzend bekannt. Viele gelangten vermutlich gar nie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. In den Jahren 1935 bis 1941 aber stellte Duchamp mit dem Koffermuseum La Boîte-en-Valise seine Alltagsobjekte selbst in einen Kunstkontext: Anhand von Fotos und kleinen Modellen bestimmt und dokumentiert er die Werkgruppe der Readymades. 1964, im Kontext der Pop Art, macht Duchamp die Irritation um die Readymades perfekt, als er für die Mailänder Galerie Schwarz 14 Readymades als Serienobjekte fertigt und ausstellt. Doch sind Multiples nicht genau das Gegenteil von Readymades? Dass ihr Prinzip ausgerechnet von ihrem Schöpfer selbst endgültig in Frage gestellt wird, birgt eine eigene Ironie.

Fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung werden die Readymades in aller Welt ausgestellt. Ein Glücksfall für die Nachwelt.

veröffentlicht am 23.10.2003 – Dorothee Fauth
Bild: Sylvie Fleury, »Cuddly Wall«, 1998 (Kelly Bag; Chanel No 5; Gucci Mules; Vanity Case; Evain; alle: 1998), Courtesy Galerie Art & Public, Genf, Detail

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