NEUE SACHLICHKEIT

»Es gilt die Dinge zu sehen, wie sie sind.« ⸺ Otto Dix

Sie reagierten mit ihren Bildern auf das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkrieges und eine aus den Fugen geratene Welt: die Künstler der Neuen Sachlichkeit.

»Brutalität! Klarheit, die wehtut! Zum Einschlafen gibt's genügend Musiken! […] Pinsle, was das Zeug hält – fang die rasende Zeit ein …«, forderte George Grosz. Wie zahlreiche Zeitgenossen distanzierte er sich von den vergeistigten Strömungen der Malerei, kritisierte deren »Wolkenwanderungstendenzen« und monierte, dass »deren Anhänger über Kuben und Gotik nachsannen, während die Feldherren mit Blut malten.« Architekten wie Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe strebten nach einer sachlich-schlichten Formensprache und diskutierten die sozialen Aspekte des Neuen Bauens. Fotografen wie Albert Renger-Patzsch und August Sander nutzten die Kamera mit »objektivem, nüchternem Auge«. Die Maler der Neuen Sachlichkeit »wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst«, so Otto Dix, eine der zentralen Figuren der Neuen Sachlichkeit. Ihre Werke zeichneten sich – als Gegenströmung zum Expressionismus – durch eine möglichst wirklichkeitsgetreue, detailgenaue Wiedergabe der Realität aus; ein strenger Bildaufbau, eine überscharfe Zeichnung mit Dominanz der Linie und eine exakte, an altmeisterlicher Malerei orientierte Technik waren dabei ihre stilistischen Kennzeichen. Bevorzugte Genres waren Stillleben, (Groß-)Stadt- und Architekturbilder sowie Porträts, in denen häufig ein moderner Typus Frau auftrat, die emanzipierte »Neue Frau« mit Bubikopf und Zigarette. Eine besondere Faszination übte zudem die Welt der Technik aus.

Der Begriff Neue Sachlichkeit wurde von Gustav Friedrich Hartlaub, Kunsthistoriker und Direktor der Städtischen Kunsthalle Mannheim, geprägt, der 1925 eine wegweisende Ausstellung mit dem Titel Die neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus eröffnete. Die Schau fand großes Interesse in Publikums- wie in Fachkreisen und tourte im Anschluss dank ihres Erfolges durch mehrere Städte Sachsens und Thüringens, wodurch die Neue Sachlichkeit beständig an Popularität gewann.

Schon 1922 hatte Hartlaub den »neuen Naturalismus« in der Gegenwartskunst in einer scharfsichtigen Analyse mit den Worten umschrieben: »Ich sehe einen rechten, einen linken Flügel. Der eine konservativ bis zum Klassizismus […] Der andere, linke Flügel, grell zeitgenössisch […] wahres Gesicht unserer Zeit.«

Die klassizistische Gruppe, die nach der Einteilung Hartlaubs den »rechten Flügel« der Neuen Sachlichkeit begründeten, war von italienischen Künstlern wie Carlo Carrà oder Giorgio de Chirico um die Zeitschrift Valori Plastici beeinflusst. Ihre Vertreter– etwa die Münchener Maler Georg Schrimpf, Carlo Mense und Alexander Kanoldt – waren einem zeitlos-idyllischen Stil verpflichtet und umgingen gesellschaftskritische Aspekte.

Die veristische Strömung, die den »linken Flügel« bildeten, repräsentierten Künstler wie George Grosz, Rudolf Schlichter und Christian Schad in Berlin, Otto Dix und Conrad Felixmüller in Dresden sowie Karl Hubbuch, Georg Scholz und Wilhelm Schnarrenberger in Karlsruhe. In teils karikierend überspitzten, teils schockierenden Bildern geißelten sie mit kühlem, messerscharfem Blick für ihre Zeit und deren gesellschaftliche Misere die Verhältnisse der Weimarer Republik. Als Zeitzeugen, ja Ankläger zeigten sie Kriegsgewinnler und Kriegsversehrte, Reichtum und Armut, benannten sie Glanz und Elend der gar nicht so Goldenen Zwanzigerjahre. Im Werk einzelner Künstler – etwa bei Dix – zeigen sich jedoch sowohl klassizistische als auch veristische Tendenzen, die gleichberechtigt nebeneinander existieren.

Ebenfalls 1925 führte der Kunstkritiker Franz Roh den Begriff des Magischen Realismus ein, der anfangs noch konkurrierend zu dem Terminus Neue Sachlichkeit verwendet wurde und heute eine dritte Richtung mit surrealistischen Anklängen beschreibt, zu der vor allem der in dem Küstenstädtchen Dangast fernab der Kunstzentren arbeitende Franz Radziwill zählt.

Zu eigenständigen Sonderformen fanden – trotz großer Nähe zu den Sujets und zum Stil der Neuen Sachlichkeit – der in Frankfurt lebende Max Beckmann und der in Berlin ansässige Carl Hofer.

Weder stilistisch noch geografisch lässt sich die Neue Sachlichkeit somit als eine einheitliche Kunstströmung beschreiben. Gemeinsam ist ihr – trotz des breiten Spektrums an Handschriften – der Zeitrahmen: Die Neue Sachlichkeit begann 1918 unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, unwiderruflich zu Ende war sie nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Jahr 1933. Die neusachliche Kunst wurde bald mit einem Verdikt belegt, im Oktober 1933 forderte der Innenminister Wilhelm Frick: »Schluß mit dem Geist der Zersetzung […] auch jene eiskalten, gänzlich undeutschen Konstruktionen, wie sie unter dem Namen der Neuen Sachlichkeit ihr Geschäft treiben, müssen ausgespielt haben …« In der Folge verlor das Gros der neusachlichen Künstler seine Lehrämter und wurde mit Ausstellungsverboten belegt; Maler wie Alexander Kanoldt oder Georg Schrimpf jedoch arbeiteten, akzeptiert oder gar protegiert von den Nazis, zunächst weiter. 1937/38 verschärften sich jedoch die Diffamierungsmaßnahmen der nazistischen Kulturpolitik, auch die Werke Kanoldts und Schimpfs galten fortan als »entartet«. Der Düsseldorfer Maler Werner Peiner hingegen wurde 1933 als Professor für Monumentalmalerei an die Düsseldorfer Akademie berufen, leitete später die Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei in Kronenburg und galt als einer der Lieblingsmaler von Adolf Hitler.

Eine Rückbesinnung auf das Erbe der neusachlichen Malerei setzte in den 1960er-Jahren ein, sie inspirierte etwa Kunstströmungen wie den Fotorealismus oder den Kritischen Realismus. Eine Renaissance erlebten realistisch-neusachliche Tendenzen darüber hinaus vor allem in der DDR-Malerei, doch hier wie auch im Westen nahm bis 1980 der Einfluss stetig ab.

Das Interesse an der Kunst der Neuen Sachlichkeit und ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung indes ist zurzeit groß. Die Werke der Protagonisten des Kunststils erfreuten sich in den vergangenen Jahren in Ausstellungen einer gesteigerten Aufmerksamkeit – gerade in Zeiten der Krise gewinnen die künstlerischen Positionen der Weimarer Republik eine mitunter erschreckende Bedeutung und Aktualität.

veröffentlicht am 30.1.2013 – Stefanie Gommel
Bild: © Ullsteinbild, Berlin

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