MERET OPPENHEIM

Meret Oppenheim
Meret Oppenheim (*1913 in Berlin-Charlottenburg, †1985 in Basel), benannt nach Gottfried Kellers Meretlein aus dem Roman Der grüne Heinrich, verbrachte ihre Jugendzeit vorwiegend in der Schweiz, brach 1932, gerade 18-jährig, die Schule ab und übersiedelte nach Paris, um Malerin zu werden. Dort studierte sie unregelmäßig an der Académie de la Grande Chaumière. 1937 kehrte sie in die Schweiz zurück und besuchte für zwei Jahre die Allgemeine Kunstgewerbeschule in Basel. Anschluss an die Gruppe 33 und die Künstlervereinigung Allianz. 1954 Anmietung eines Ateliers in Bern. Rege Ausstellungstätigkeit, darunter in den 1930er-Jahren Teilnahme an den Kunstschauen der Surrealisten, 1936 erste Einzelausstellung in der Galerie Marguerite Schulthess in Basel, 1967 erste große Retrospektive in Stockholm, posthum weitere in New York, Chicago oder auch Bern, 1982 Einladung zur documenta 7. An ihrem 72. Geburtstag am 6. Oktober 1985, rund fünf Wochen vor ihrem Tod, äußerte die Künstlerin: »Ich sterbe noch mit dem ersten Schnee« – mit 36 Jahren hatte sie von einer zur Hälfte abgelaufenen Sanduhr geträumt.

 

Fährtenleserin der Träume

»Es sind die Künstler, die träumen für die Gesellschaft.« ⸺ Meret Oppenheim

Eine Kaffeetasse samt Unterteller und Löffel, überzogen mit dem Fell einer chinesischen Gazelle, begründete im Jahr 1936 den frühen Ruhm der gerade erst 23-jährigen Meret Oppenheim, die vier Jahre zuvor mit ihrer Freundin, der Malerin Irène Zurkinden, von Basel in die Kunstmetropole Paris aufgebrochen war. Sie lernte Künstler wie Alberto Giacometti, Hans und Sophie Taeuber-Arp oder Max Ernst kennen, mit dem sie eine knapp einjährige Liebesbeziehung einging, und schloss sich dem skandalumwitterten Kreis der Surrealisten an: »eine große Saubande«, wie die Künstlerin später resümierte. 1933 luden Giacometti und Hans Arp die deutsch-schweizerische Künstlerin ein, am 6. »Salon des Surindépendants« der Surrealisten auszustellen und machten sie mit André Breton bekannt, der die »Pelztasse« 1936 in seiner Exposition surréaliste d'objets in der Pariser Galerie Charles Ratton vorstellte.

Déjeuner en fourrure (Frühstück im Pelz) wurde noch im selben Jahr von Alfred Barr Jr. für die Sammlung des Museum of Modern Art in New York erworben, katapultierte Meret Oppenheim rasch in die erste Reihe der Aufmerksamkeit der Kunstöffentlichkeit und verstellte lange den Blick auf das gesamte Werk der fortwährend suchenden und kreativ experimentierenden Künstlerin. »Dann«, so Oppenheim selbst, »war ich unter dieser Etikette von dieser ewigen Pelztasse – kein schlechtes Objekt, finde ich, aber ich hab' ebenso gute andere Objekte gemacht, gleichzeitig.« (Meret Oppenheims Eichhörnchen, ein Bierglas mit pelzigem Griff, entstanden 1969, stellt ein männliches, ironisches Pendant zu ihrer »Pelztasse« dar.)

Der Mythos um ihre Person indes wurde bereits 1933 durch Man Rays berühmte Fotoserie Érotique voilée genährt: Nackt posierte Meret Oppenheim für ihn im Atelier von Louis Marcoussis hinter einer Kupferdruckpresse. Oppenheim sträubte sich jedoch dagegen, als bloße Muse der Surrealisten betrachtet zu werden. Mit ihrem neben der »Pelztasse« bekanntesten, ebenfalls 1936 entstandenen Werk Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen rüttelte sie an den Fesseln der tradierten Rollenzuschreibungen der Frau. Auf einem Silbertablett präsentiert das Objekt ein Paar zusammengeschnürte weiße Pumps mit Papiermanschetten über den Absätzen – eine, so Bice Curiger, »heftige, gleichsam natürliche Verbindung […] zwischen Gänsebraten, Bedienstetenhäubchen und gefesselter Frau.«

Eine Künstlerexistenz als weiblicher Lebensentwurf – fortan nahm sich Meret Oppenheim beständig der besonderen Stellung des »weiblichen Künstlers« an. Sie entwickelte dabei eine zunehmend kämpferische Haltung, die sich auch in ihrer viel zitierten Rede anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Basel im Jahr 1975 ausdrückte: »Wenn einer aber eine eigene, neue Sprache spricht, die noch niemand versteht, dann muss er manchmal lange warten, bis er ein Echo vernimmt. Noch schwieriger ist es immer noch für einen weiblichen Künstler […] Bei den Künstlern ist man es gewöhnt, dass sie ein Leben führen, wie es ihnen passt – und die Bürger drücken ein Auge zu. Wenn aber eine Frau das gleiche tut, dann sperren sie die Augen auf. Das und vieles andere muss man in Kauf nehmen. Ja, ich möchte sogar sagen, dass man als Frau die Verpflichtung hat, durch seine Lebensführung zu beweisen, dass man die Tabus, mit welchen Frauen seit Jahrtausenden in einem Zustande der Unterwerfung gehalten wurden, als nicht mehr gültig ansieht. Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen.«
Die Rede nahm zentrale Thesen des rund ein Jahrzehnt später einsetzenden Genderdiskurses vorweg, die Künstlerin wurde damit zum Leitbild für die jüngere Generation. Meret Oppenheim lehnte eine Geschlechterdifferenz in der Kunst jedoch kategorisch ab, tief überzeugt, dass es keine »weibliche Kunst« gibt: »Der Geist ist androgyn« oder »Kunst hat kein Geschlechtsmerkmal. Es gibt nur ein Einmaleins.«

Zuvor jedoch, nach ihrer Rückkehr in die Schweiz im Jahr 1937, begann eine lange künstlerische Krise, die bis 1954 anhalten sollte. »Es war mir, als würde die jahrtausendealte Diskriminierung der Frau auf meinen Schultern lasten […] als ein in mir selber steckendes Gefühl der Minderwertigkeit«, formulierte die Künstlerin einmal. Ihre Erstarrung fand etwa in ihrem Ölgemälde Steinfrau von 1938 ihren Ausdruck – ein Schlüsselwerk zum Verständnis der Lähmung der Künstlerin. Auch ihre Werke zu Genoveva von Brabant aus einer Legende aus dem 8. Jahrhundert zeugen vor dem Hintergrund ihrer eigenen persönlichen Situation von der intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik der ohnmächtigen Frau.

»Die Krise verging fast von alleine. Das war ein innerer Vorgang, der von einer zur anderen Sekunde vorüber war. Ich konnte in jener Nacht nicht schlafen, weil ich wusste, dass fortan alles anders wird.« Daraufhin fand die Künstlerin, ab 1954 zunächst in einem eigenen Atelier in Bern, zurück zu schöpferischer Kraft. Oppenheims Schaffen ist ungemein reich, mit Fantasie und Experimentierlust stromerte sie durch die verschiedenen Gattungen, schuf Objekte, Skulpturen, Zeichnungen, Ölgemälde, Assemblagen, Collagen, Mode, Schmuck, Möbel und Gedichte und entzog sich mit der Verwendung mannigfaltiger Techniken und vielfältiger, oft natürlicher Materialien jeglichen stilistischen Einordnungsversuchen – stets ist im Zusammenhang mit dem vielgestaltigen Werk Meret Oppenheims von der »Diskontinuität des Erscheinungsbildes« (Jean-Christophe Ammann) die Rede. Doch gibt es inhaltliche Hauptthemen: das Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur, Mann und Frau, Mensch und Tier, Wirklichkeit und Imagination.

Ihre Bildwelten schöpfte die Künstlerin dabei in besonderem Maße aus sich selbst. »Meret Oppenheim konnte die Kraft ihrer inneren Bildsprache in den sichtbaren Bildraum transformieren«, fasste es die österreichische Medienkünstlerin VALIE EXPORT zusammen. Als Quellen der künstlerischen Inspiration benannte die Künstlerin, die sich in Rollenspielen und Selbstporträts gern neu erfand, ihre persönlichen Mythen und Träume, ihre Liebe zur Natur sowie den großen Einfluss der Literatur und der Schriften des Schweizer Psychiaters und Begründers der analytischen Psychologie C. G. Jung. Bereits als Teenager begann Oppenheim, ihre Träume aufzuschreiben und lebenslang zu sammeln. Ein eindrucksvolles Beispiel des Einflusses auf ihr Werk ist Oppenheims geheimnisvolle Gouache Der Traum von der weißen Marmorschildkröte mit Hufeisen an den Füßen von 1975, die aus einem früheren Traum der Künstlerin schöpfte. Ihre posthum veröffentlichten Träume. Aufzeichnungen 1928–1985 führen zu den Wurzeln ihres immer wieder verblüffenden Bilderkosmos.

Trotz des immensen Spektrums seiner Stile und Formen wurde das Œuvre der Multimediakünstlerin insbesondere international bislang nicht gebührend gewürdigt. Am 6. Oktober 2013 ist der 100. Geburtstag Meret Oppenheims, und gerade im Umfeld dieses Jubiläums werden alle Liebhaber ihres Werkes hoffen, dass die prägende Rolle Meret Oppenheims in der Kunst des 20. Jahrhunderts und ihr Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen in ihrem Kampf um ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung weiter ins Licht gerückt werden.

Foto: Meret Oppenheim hält ihre Rede anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Basel, Universität Basel, 16. Januar 1975, Detail
veröffentlicht am 5.4.2013 – Stefanie Gommel