FOTOREALISMUS

»Als mich ein Kunstkritiker fragte, wie ich diese Maler nennen würde, die Kameras und Fotografien als Grundlage für ihren Malprozess nutzen, antwortete ich: ›Ich weiß nicht so recht ... Vielleicht fotografische Realisten ... Nein! Fotorealisten ...‹«  ⸺ Louis K. Meisel

Fragmente der amerikanischen Stadtlandschaft von Richard Estes, Reflexionen im Schaufenster von Tom Blackwell, hochglanzpolierte Autos von Don Eddy, Trucks, Pick-ups und Wohnmobile von Ralph Goings, die glänzenden Oberflächen der Motorräder von David Parrish, Fast-Food-Restaurants und Dinerszenen von John Baeder, bunte Konsumartikel der Kinder- und Erwachsenenwelt wie Kaugummiautomaten oder Flippermaschinen von Charles Bell. In den späten 1960er-Jahren begannen mehrere junge Künstler in den USA, meist alltägliche Motive ihrer unmittelbaren Umgebung, die den »American way of life« zum Ausdruck brachten, mit akribischer Detailtreue auf großformatigen Gemälden festzuhalten. Als Vorlage dienten ihnen Fotografien, die sie – zumeist selbst mit der Kamera eingefangen – in einem aufwendigen Arbeitsprozess mithilfe von Diaprojektion oder unter Anwendung des Rasterverfahrens präzise auf die Leinwand transkribierten.

Diese Bilder von Bildern, in Öl oder Acryl, mit Pinsel oder Spritzpistole angefertigt, wurden in den USA erstmals 1970 im New Yorker Whitney Museum of American Art gezeigt, in Europa gilt die documenta 5 als erste große Gruppenschau des Fotorealismus. Unter dem Motto »Befragung der Realität – Bildwelten heute« präsentierte die Kasseler Kunstausstellung, 1972 kuratiert von Harald Szeemann, die neu aufkeimende Stilrichtung – und verhalf ihr zu internationalem Durchbruch. In den 1970er-Jahren folgten weltweit über 100 Ausstellungen, zahlreiche Kritiken und Kommentare erschienen in Zeitungen und Zeitschriften über die überaus naturalistische, wirklichkeitsnahe Kunst.

Die fotorealistische Malerei zog das breite Publikum von Beginn an ganz unmittelbar in den Bann, lockte es in einen Irrgarten aus Wirklichkeit und Abbild. In den Feuilletons hingegen herrschte Entsetzen: Der Fotorealismus, so der Tenor der Kritiker, sei keine Kunst, sondern pure Kopistenvirtuosität. Schnell wurde die Stilrichtung als schierer Wirklichkeitsabklatsch, als anti-intellektuelles, konservatives und reaktionäres Phänomen eingestuft. Die Intention der Künstler lag jedoch nicht darin, mit der Präzision des Kameraauges zu konkurrieren. Vielmehr galt ihr Interesse dem komplexen Verhältnis von Reproduktion und Reproduziertem, den konkreten technischen Problemen im Übertragungsprozess von Farb- und Oberflächenstrukturen, von Lichtpunkten und Reflexen auf die Leinwand, um schließlich eine eigene, neue Bildrealität zu erschaffen, die sich weniger auf eine außerbildliche Realität als auf die reproduzierte Wirklichkeit bezieht. Die Bilder erscheinen wie Fotografien, sind aber mit klassischen Malmitteln umgesetzte Kunstwerke. »Meine Bilder sehen real aus, aber es ist eine subjektive Realität«, formulierte Charles Bell. Eine radikale Maßstabsveränderung etwa – wie das häufig angewandte Blow-up-Verfahren – führt die Gemälde über eine bloße Abbildlichkeit hinaus; einzelne Künstler lassen durchaus den Pinselduktus zum Vorschein kommen. Mit ihren Methoden begründeten die Pioniere des Fotorealismus einen Paradigmenwechsel in der Kunstgeschichte mit Wirkung bis in die Gegenwart.

Der New Yorker Galerist Louis K. Meisel prägte 1969 den Begriff Fotorealismus für einen Stil, dessen Wurzeln in den USA liegen. Mit einer 5-Punkte-Definition aus dem Jahr 1972 konkretisierte Meisel seine erste Aussage: Der Fotorealist nutzt die Kamera zur Bildfindung. Er verwendet mechanische Mittel, um die Informationen auf die Leinwand zu übertragen. Der Fotorealist muss seine Arbeit fotografisch erscheinen lassen. Er muss bis 1972 als Fotorealist ausgestellt haben und sich mindestens fünf Jahre lang der Entwicklung und Ausstellung fotorealistischer Arbeiten gewidmet haben.

Die Künstler und Künstlerinnen – zur Kerngruppe gehören John Baeder, Robert Bechtle, Charles Bell, Tom Blackwell, Chuck Close, Robert Cottingham, Don Eddy, Richard Estes, Audrey Flack, Ralph Goings, John Kacere, Ron Kleemann, Richard McLean, Jack Mendenhall, David Parrish, John Salt und Ben Schonzeit – stammten überwiegend aus New York an der amerikanischen Ostküste und aus Kalifornien an der Westküste. Doch bildeten die Fotorealist*innen weder eine geschlossene Gruppe, noch verstanden sie sich als Teil einer Bewegung. Es existieren kein Manifest und keine Statements zu gemeinsamen Positionen und Zielen. Der Schweizer Franz Gertsch etwa, einer der wenigen europäischen Vertreter der Pionierzeit des Fotorealismus, der 1969 sein erstes Werk mittels eines Diaprojektors auf die Leinwand übertrug, hatte keine Kenntnis von ähnlichen Tendenzen in Amerika. Indes vereinte die Begründer*innen fotorealistischer Techniken der Protest gegen die international vorherrschende abstrakte Kunst mit ihrem oft extrem subjektiven, leidenschaftlichen Gestus. Mit den Künstler*innen der Pop Art teilten sie das Interesse für eine gegenständliche Malerei, die sich alltäglichen Sujets zuwendet, distanzierten sich jedoch von deren glamourösen und ironischen Attitüden.

Auf die ersten, zum Großteil auf der documenta 5 vorgestellten Vertreter des Fotorealismus folgte in den 1980er- und 1990er-Jahren eine Generation von Künstler*innen, die durch ihre Herkunft und Motivwahl die Stilrichtung internationalisierten. Inspiriert von den amerikanischen Pionieren des Fotorealismus, widmen sich diese Künstler, die nun vermehrt aus Europa stammen – unter ihnen Davis Cone, Randy Dudley, Robert Gniewek, Don Jacot, Bertrand Meniel oder Bernardo Torrens –, häufig urbanen Szenerien. Die Stadtansichten zeigen nun jedoch nicht mehr ausschließlich amerikanische Motive, Anthony Brunelli etwa interessieren die ländlichen Vorstädte im Norden New Yorks, wo er selbst aufgewachsen ist, ebenso wie exotische Orte in Vietnam oder Kambodscha bis hin zu internationalen Metropolen wie Prag, Paris, Monaco oder Zürich.

Die heutigen Fotorealisten – zu ihren Vertretern zählen Roberto Bernardi, Clive Head, Ben Johnson, Peter Maier, Yigal Ozeri und Robert Neffson – führen die realistische Malerei mit hochmoderner Digitaltechnik in eine neue Dimension, die mit ihrem bis zur Augentäuschung gehenden Detailnaturalismus den Betrachter mehr denn je an der Echtheit dieser Kunst zweifeln lässt. Die gestochen scharfe, hyperrealistische Malerei von Raphaella Spence, in London geboren, in Frankreich und Italien aufgewachsen, kann diese Tendenz beispielhaft veranschaulichen: Mit einer 66-Megapixel-Kamera lichtet sie Städte auf der ganzen Welt ab. Hierfür fliegt sie mit dem Hubschrauber über diese hinweg, etwa über das nächtliche, hell erleuchtete Las Vegas, um das Motiv im Anschluss Pixel für Pixel auf die Leinwand zu übertragen.

Der Fotorealismus blickt auf eine fast 50-jährige Geschichte zurück, die Faszination ist ungebrochen. »Das Staunen des Betrachters«, so Otto Letze und Nina S. Knoll in ihrem Beitrag in dem Band Fotorealismus. 50 Jahre fotorealistische Malerei, »hat mit dem Schärfegrad der Auflösung dieser Werke über die drei Generationen hinweg stetig zugenommen.«

veröffentlicht am 12.11.2012 – Stefanie Gommel – auf der Grundlage von: Fotorealismus. 50 Jahre fotorealistische Malerei

Don Eddy, Untitled (4 VWs), 1971 (Detail), F. Javier Elorza, © Don Eddy, © für das Reprofoto: 2012 Gonzalo de la Sern