FARBFOTOGRAFIE

»Wäre die Fotografie als Farbfotografie erfunden worden – wer hätte je Schwarzweiß vermisst?« ⸺ Judy Linn, 1980

Farbfotografie hat heute ihren festen Platz in Museen, Ausstellungen und auf dem Kunstmarkt. 2006 erzielte das Auktionshaus Sotheby’s für eine Arbeit des deutschen Fotografen Andreas Gursky mehr als zwei Millionen Dollar. Seit den 1980er-Jahren boomt das Medium, dem noch ein Jahrzehnt zuvor die Anerkennung als Kunstform weitgehend verweigert war. Gesammelt und ausgestellt wurde bis weit in die 1970er-Jahre hinein nahezu ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotografie. Für diese Zurückhaltung gab es zum einen konservatorische Gründe, denn die frühe Farbfotografie war aufgrund der instabilen Farbpigmente ein äußerst labiles Medium. Schwerer jedoch wogen die ästhetischen Vorbehalte gegen das farbige Foto, das massenhaft von Amateuren genutzt und professionell dem Journalismus, der Werbung, den Massenmedien und der Unterhaltungsindustrie vorbehalten war.

Die Anerkennung der Farbfotografie als Kunstform ist ein kulturelles Phänomen und das Ergebnis eines ästhetischen Emanzipationsprozesses, der in den 1970er-Jahren in den USA einsetzte und sich mit so großer Geschwindigkeit vollzog, dass nur ein Jahrzehnt später die Unterscheidung zwischen Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografie obsolet zu werden begann. Eine Kunstgeschichte der Farbfotografie kann daher streng genommen nur bis in die 1980er-Jahre verfolgt werden – danach geht sie in der Kunstgeschichte der Fotografie auf.

In den 1930er-Jahren hatten Kodak und Agfa die ersten kommerziell verwertbaren Diapositivfilme auf den Markt gebracht. 1942 stellten beide Firmen dann Farbnegativfilme vor, die unter den Markennamen Agfacolor und Kodachrome bis 2005 beziehungsweise 2009 produziert wurden. Das aufwendige Entwicklungsverfahren, das nur im Labor durchzuführen und schwer zu kontrollieren war, beförderte die Vorbehalte gegen eine künstlerische Verwertbarkeit des Mediums: Wenn das Endprodukt von Chemikalien und Laborpersonal bestimmt wurde, wie konnte es dann Kunst sein und inwieweit durfte der Fotograf Autorenschaft beanspruchen?

Als Wendepunkt in der Geschichte der Farbfotografie gilt die Ausstellung Photographs by William Eggleston, die das New Yorker MoMa 1976 zeigte. Egglestons (*1939) Fotografien zeigten Motive, die er in nächster Nähe seines Heimatortes Memphis,Tennessee, an verschiedenen Orten des Mississippi Deltas aufgenommen hatte: Freunde und Bekannte, Friedhöfe, Vorstadtkinder, parkende Autos, Müllhaufen, Felder, Innenstadtgebäude, profane Interieurs und scheinbar triviale Schnappschussmotive. Eines der bekanntesten Fotos ist Greenwood, Mississippi auch unter dem Titel Red Ceiling bekannt, aufgenommen im Jahr 1973. Zu sehen sind eine nackte Glühbirne und einige Installationsleitungen vor dem Hintergrund einer rot gestrichenen Zimmerdecke.

Der Unmut der Kunstkritik entzündete sich an der Gewöhnlichkeit der Sujets und an Egglestons unverbindlicher, passiver, ja geradezu apathisch wirkender Haltung gegenüber seinen Motiven. Dies umso mehr, als die im farbintensiven Dye-Transfer-Verfahren hergestellten Fotografien große technische und kompositorische Virtuosität erkennen ließen. Bei aller Kunstfertigkeit, bei allem erkennbaren Aufwand hatte der Künstler offenbar nichts mitzuteilen, seine Bilder schienen dem Betrachter zu sagen: Ist mir egal, was du darin siehst, sieh doch was du willst.

Tatsächlich zeichneten die Fotografien ein scharfes Bild des Zeitgeistes der Nixon-Ära, während sie gleichzeitig die These formulierten, dass eine spezifische Ästhetik der Farbfotografie gerade aus den Qualitäten abzuleiten war, die scheinbar gegen ihre Kunstwürdigkeit zu sprechen schienen: Beiläufigkeit, profane Sujets, ein unmittelbarer Bezug zur abgebildeten Realität und die jeder Aufnahme eingeschriebene Reflexion auf ihren eigenen Entstehungsprozess und die Kulturgeschichte des Mediums Farbfotografie. Eggleston wies die Richtung für Generationen von Künstlern nach ihm, indem er meisterhaft mit den von Massenmedien geprägten Sehgewohnheiten und medialer Zweideutigkeit spielte.

Vorangetrieben wurde die ästhetische Emanzipation der Farbfotografie auch durch neue Positionen in der künstlerischen Dokumentarfotografie. Diane Arbus, Garry Winogrand und Lee Friedlander revolutionierten das Genre durch eine betont subjektive Sicht. Die verringerte Distanz zwischen Gegenstand und Betrachter drückte Winogrand (1928–1984) schon in den 1960er-Jahren durch die Verwendung der Farbfotografie aus. Ende der 1970er-Jahre begann die junge Fotografin Nan Goldin (*1953) die Kamera auf sich selbst und ihr privates Umfeld zu richten. Sie nutzte die Aura des Privaten, die der Farbfotografie anhaftet, um »wahre« Geschichten erzählen, die von Drogensucht, Abhängigkeit und Gewalt handeln (The Ballad of Sexual Dependency, 1979–1986).

Die Farbfotografie kam offenbar genau zum richtigen Zeitpunkt, um als Katalysator einer umfassenden Veränderung zu wirken, die alle Bereiche der Bildenden Kunst erfasst hatte und den Glauben an das Bild als in sich abgeschlossenes Werk infrage stellte. Vor allem die damals aufkommende Konzeptkunst, die der Idee Priorität vor der formalen Gestaltung einräumt, entdeckte rasch die Fotografie als geeignetes und leicht verfügbares Medium, das sich aufgrund seiner Profanität nicht als Artefakt in den Vordergrund drängt. Das Foto sollte eine Idee vermitteln, nicht selbst Kunstwerk sein. »Ich kopierte akribisch die Kunstwerke anderer, bis ich begriff, dass ich einfach eine Kamera verwenden und statt dessen meine Zeit einer Idee widmen kann«, erklärt Cindy Sherman (*1954), deren Werk Strategien der Konzeptkunst mit inszenierter Fotografie verbindet.

Stephen Shore (*1947) gehört neben William Eggleston zu den stilprägenden Fotografen der frühen 1970er-Jahre. Sein 1977 in der Düsseldorfer Kunsthalle ausgestelltes Werk hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der künstlerischen Fotografie in Deutschland. In Anlehnung an Walker Evans American Photographsund Robert Franks berühmte Portraitserie The Americans unternahm Shore 1972 eine Rundreise durch die USA. Er fotografierte unterwegs in Fast-Food-Restaurants, Motels, an Tankstellen und am Straßenrand, darunter viele Motive, deren Trivialität selbst einem Amateurfotografen wohl keinen Schnappschuss wert gewesen wäre: geöffnete Kühlschränke, Toiletten und Waschbecken, Drugstoreregale und Fast Food Menüs. Die Abzüge ließ er im Drugstore herstellen und auch das kleine Format entsprach den Konventionen der Amateurfotografie. Anspielungsreich nannte Shore das Projekt American Surfaces – Amerikanische Oberflächen.

Shores Ansatz war dokumentarisch, unkritisch, kunstlos, durch die Beliebigkeit der Motivwahl und des Blickwinkels anonymisiert, ohne persönliche Handschrift und dennoch einzig und allein vom subjektiven Blick bestimmt. »Wenn man die fotografischen Konventionen so weit wie möglich eliminiert hat«, so Shore in einem Interview, »ist das, was übrig bleibt, man selbst und die eigene Art zu sehen«. Was Shore interessierte, war die schwer fassbare Differenz zwischen einer subjektiven, in ihrer zeitlichen Ausdehnung auf einen winzigen Moment beschränkten Wahrnehmung und ihrer in einem Foto fixierten Aufnahme.

Shore verfolgte diese Idee anschließend mit großen Formaten weiter und schuf Ansichten scheinbar beliebiger Ausschnitte von Straßenzügen, Highways und Häuserfronten. Seine Arbeiten wurden 1977 in der Kunsthalle Düsseldorf und auf der Documenta 6 gezeigt, die erstmals der historischen und zeitgenössischen Fotografie einen Schwerpunkt widmete. Vermittelt hatte diese Ausstellungen Bernd Becher, der seit 1976 den Lehrstuhl für Fotografie an der Düsseldorfer Kunstakademie innehatte.

Dem maßgeblichen Einfluss Shores auf die Absolventen der von dem Künstlerpaar Bernd und Hilla geleiteten »Becherklasse« widmet das NRW Forum Kunst und Kultur im Herbst 2010 eine Ausstellung unter dem Titel Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie.

Zu den mittlerweile zu Weltruhm gelangten Becher-Schülerinnen und Schülern zählen Candida Höfer (*1944), Axel Hütte (*1951), Thomas Struth (*1954), Andreas Gursky (*1955), Thomas Ruff (*1958), Rineke Dijkstra (*1959) und Elger Esser (*1967). Die von der »Becherschule« ausgehende Bewegung etablierte Themen wie Konsumkultur, Entfremdung, Arbeit und Freizeit, Technologie und Verkehr, Überbevölkerung und Wachstum der Städte in der Fotokunst. Selbstbewusst gaben die Vertreter der Düsseldorfer Schule ihren Arbeiten große Formate und betonten die Autonomie des einzelnen Bildes als in sich abgeschlossenes Werk, das keines weiteren Kontextes zu seiner Vermittlung bedarf.

Die große Attraktivität der zeitgenössischen Fotografie als Museums- und Sammlerobjekt steht in engem Zusammenhang mit dieser Rückkehr zum Tafelbild, die sich nicht nur in den zunehmend größeren Formaten ausdrückt, sondern auch in der Kostspieligkeit der mit hohem Aufwand produzierten Bilder. Der Kanadier Jeff Wall (*1946) trieb schon im vordigitalen Zeitalter das Genre der inszenierten Fotografie mit in Leuchtkästen präsentierten Großdias an die Grenzen. Walls Thema ist durchaus die Realität, doch im Vergleich zu Fotografen wie Shore und Eggleston wollte er sie nicht mehr einfach aufnehmen, sondern darstellen. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Andreas Gursky, der in einem Interview sagte: »Wirklichkeit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie konstruiert«. Es mag paradox erscheinen, dass im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung die Fotografie auf die klassischen Kompositionstechniken der Malerei zurückgreift und zu einem konservativen Kunstbegriff zurückzukehren scheint.

Gerade Gurskys Tableaus setzen sich leicht dem Vorwurf aus, den traditionellen Sehgewohnheiten des Museumsbesuchers allzu bereitwillig gerecht zu werden und mit ihren geradezu klassischen Kompositionen zu schnellem Kunstkonsum einzuladen. Beim ersten Hinsehen mit einigem Abstand scheinen seine Landschaften, Architekturansichten, Innenräume und Massenszenen als harmonische, ausgewogene Kompositionen mit einem Blick erfassbar. Tatsächlich aber fehlt ein Schwerpunkt, jedes einzelne Motiv ist scharf gestellt und akribisch ausgearbeitet, jede Annäherung und intensivere Beschäftigung stürzt den Betrachter in einen unendlich komplexen Kosmos von Motiven, Bezügen und Perspektiven. Indem sie das Verhältnis von Abbild und Authentizität reflektieren, bleiben auch Gurskys Fotografien einem der großen ästhetischen Leitmotive der Fotografie treu, dessen künstlerisches Potenzial auch in der Bilderflut des digitalen Zeitalters noch keineswegs erschöpft ist.

veröffentlicht am 6.7.2010 – Andrea Gern

 

Bild: Heinrich Kühn, »Mary Warner und Edeltrude«, um 1908, Detail
Getaggt mit:
Veröffentlicht am: 27.01.2010