BIEDERMEIER

»Schau, dort spaziert Herr Biedermeier und seine Frau, den Sohn am Arm; sein Tritt ist sachte wie auf Eier, sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.«  ⸺ Aus dem Gedicht Herr Biedermeier von Ludwig Pfau, 1847

Das Biedermeier ist auf dem Weg, nicht länger als muffiges Produkt eines spießigen Geschmacks betrachtet zu werden, sondern wird als hochkultivierte Kunstrichtung neu entdeckt.

Der Begriff Biedermeier steht im allgemeinen Sprachgebrauch für alles Kleinbürgerliche, Hausbackene. Auch wenn Biedermeiermöbel und -gläser längst begehrte Sammelobjekte sind, trug dieses abfällige Werturteil dazu bei, dass Künstler dieser Epoche oft pauschal als harmlos, minderwertig und uninteressant angesehen werden. Wie ungerecht diese Behandlung ist, wird erst durch die Erkenntnisse deutlich, die das in den letzten Jahren wieder wachsende Interesse der Kunstwissenschaft zutage fördert.

Die Bezeichnung stammt aus einer Parodie auf das Spießbürgertum von Adolf Kussmaul und Ludwig Eichrodt, die von 1855 bis 1857 in dem satirischen Münchner Wochenblatt Fliegende Blätter die fingierten, kreuzbraven Gedichte des schwäbischen Schullehrers Gottlieb Biedermaier und seines Freundes Horatius Treuherz veröffentlichten. Biedermeier wurde bald zum Synonym für alles Betuliche und Konservative, besonders in Bezug auf Wohnkultur und Malerei. Erst nach und nach bezeichnete es eine unpolitische Zeitspanne nach dem Wiener Kongress.

Eine klare Definition oder eine kritische Analyse der Epoche steht bis heute weitgehend aus. Während die Kunstgeschichte den Beginn zeitgleich mit der Befreiung Europas von Napoleon und dem Wiener Kongress sieht, herrscht über ihr Ende weniger Einigkeit: Je nach Blickrichtung fällt es mit den Aufständen nach der Julirevolution 1830, dem Tod des österreichischen Kaisers Franz I. 1835 oder dem Ausbruch der Revolution 1848 zusammen. Gemeint ist jedenfalls eine friedliche Zeit, in der Hegel seine Philosophie entwickelte, Alexander von Humboldt seine Entdeckungsreisen unternahm, der alternde Goethe lebte, Grillparzer seine Dramen schrieb und Franz Schubert und Beethoven komponierten.

Beherrscht wird die Epoche von einem Pluralismus zeitgleicher Stilrichtungen und ihrer Vermischung: Neben dem Biedermeier haben Romantik, Spätklassizismus, Realismus, Neugotik, Neurenaissance und Neobarock ihre widerstreitenden Anhänger. »Unsere Hauptstädte blühen in allen möglichen Stilarten, sodass wir in angenehmer Enttäuschung am Ende selbst vergessen, welchem Jahrhundert wir angehören«, beschreibt ein Zeitgenosse diese Vielfalt.

Kulturelle Zentren liegen in Österreich, der Schweiz und Deutschland, aber auch in Skandinavien, vor allem in Wien, Hamburg, Berlin und Kopenhagen. Zwischen den Metropolen Mittel- und Nordeuropas herrscht reger Austausch.

Obwohl das Biedermeier mit dem Aufstieg des Bürgertums zusammenhängt, handelt es sich nicht um eine rein bürgerliche Kunst für bürgerliche Auftraggeber. Die besten und schlichtesten Möbel entstehen im Auftrag des Hofes und des Adels. Stilmerkmale sind sachliche Entwürfe, klare, abstrahierte Formen, leuchtende, oft komplementär kontrastierende Farben und das Fehlen von Oberflächendekors.

Aus der Not nach mehr als 15 Jahren Krieg entwickelt sich beim Möbelbau zunächst eine Ästhetik der Sparsamkeit, die sich etwa darin zeigt, dass überwiegend heimische Hölzer verarbeitet werden. Wegweisend ist der »englische Stil«, der sich durch schlichte Eleganz, Zweckmäßigkeit und gute Verarbeitung auszeichnet. Möbel sollen nicht repräsentativ wirken, sondern Behaglichkeit verbreiten. Der »Stil der Armut« wird jedoch bald zum Ideal der Bescheidenheit und Sachlichkeit, das sowohl auf ästhetische als auch moralische Tugenden angewandt wird und als Abkehr vom Luxus des 18. Jahrhunderts verstanden werden kann. Im Mittelpunkt steht die Schönheit des Materials. Dies gilt nicht nur für Möbel, sondern auch für Formen und Oberflächengestaltung von Glas, Silber, Metall, Porzellan und Keramik.

Die Biedermeier-Wohnkultur ist eine Kultur der Erinnerung. Es ist üblich, Tische, Regale und Etageren mit zahlreichen kleinen Objekten und Andenken zu dekorieren, oft geschmückt mit Motiven aus Landschaft und Architektur oder Blumen- und Tierbildern. Auch Vögel, Pflanzen und andere Naturobjekte halten Einzug in den Innenbereich. Die Wände sind dicht mit Kunstwerken behängt und überall stehen kleine Dekorationsstücke und Pflanzen, sodass die Wohnungen geradezu überfrachtet erscheinen. Besonders geschätzt sind Alben und Stammbücher, in denen man Briefe, Gedichte und Aquarelle sammelt.

Das Biedermeier ist durchdrungen von der Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit. Dabei werden seine Markenzeichen – die Betonung der Individualität, der Funktionalität, der Häuslichkeit und der familiären Umgebung – auf die Privaträume eines Schlosses ebenso angewendet wie auf die Wohnung einer großbürgerlichen Familie oder die kleinen Räume einer kultivierten Einzelperson.

In der Malerei wird das Naheliegende darstellenswert: die eigene Umgebung in Stadt und Land, aber auch im eigenen Heim. Es dominieren die Genre- und die Landschaftsmalerei sowie das Porträt. Auch die Aquarelltechnik erreicht ein sehr hohes Niveau, für Buchillustrationen wird zunehmend die Lithografie eingesetzt. Die Wiedergabe des Motivs ist dabei stets realistisch und von größtmöglicher Sachlichkeit.

Im Zeitalter der Aufklärung ist die Erforschung der Natur und ihrer Gesetze von großer Bedeutung, der bildende Künstler wird daher zum unentbehrlichen Helfer beim Erfassen und Klassifizieren. Der Idealisierung der Natur als Schöpfung Gottes wird ein besonderer Stellenwert zugemessen.

In den letzten 20 Jahren setzte ein neues Interesse an der Zeit und Kunst des Biedermeier ein, das zu einer Neubewertung der Epoche führte. Das Biedermeier ist auf dem Weg, nicht länger als muffiges Produkt eines spießigen Geschmacks betrachtet zu werden, sondern wird als hochkultivierte Kunstrichtung neu entdeckt. Dies ist möglicherweise ein Ausdruck des Zeitgeistes, der Begriffe wie Vernunft, Pragmatismus und Realismus wieder positiv besetzt und neu diskutiert. Bürgerliche Werte und Tugenden stehen hoch im Kurs. Und bezeichnet nicht der modische Begriff Cocooning einen Trend des allgemeinen Rückzugs in private Lebenswelten? Vielleicht steht uns die Epoche des Biedermeier näher, als alle alten Vorurteile vermuten lassen.

veröffentlicht am 18.12.2006 – Monika Wolz

 

Bild: Georg Friedrich Kersting, »Die Stickerin«, 1817, Detail Muzeum Narodowe, Warschau
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Veröffentlicht am: 05.02.2010