ANSELM KIEFER

Anselm Kiefer (*1945 in Donaueschingen) studierte 1966–1970 bei Peter Dreher und Horst Antes an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Freiburg im Breisgau und Karlsruhe. Ab 1970 arbeitete er in einem ehemaligen Schulhaus bei Buchen im Odenwald; Austausch mit Joseph Beuys. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, darunter 1984 erste umfassende Einzelausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf, die anschließend im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris und im Israel Museum in Jerusalem gezeigt wird; 1987–1989 Wanderausstellung durch die USA; 2014 Royal Academy of Arts, London; 2015/16 Centre Pompidou, Paris, Albertina, Wien. 1991–1993 Reisen nach Asien, Australien und Südamerika; Verlegung seines Ateliers nach Südfrankreich in die stillgelegte Seidenspinnerei La Ribaute in Barjac, ab 2007 zusätzliche Ateliers in Paris und Croissy.

 

Holzschnitte

»Ja sicher, ich habe die Mythen befreit, hoffe ich, vom Missbrauch der Nazis. Also ich sage: Die Mythen sind keine Handlungsanweisung, sondern die sind ein Bild für die Welt, ein Gesamtbild, während die Geschichte und die Wissenschaft, die geben ja immer nur Teile. Und die Mythen geben ein Gesamtbild.« ⸺ Anselm Kiefer
 »… subtile optische wie technische Wunderwerke. Unglaublich, wie Kiefer dieses Handwerk beherrscht.« ⸺ Die Presse

»Die Deutschen sind Meister im Zustopfen der leeren Räume, im Verschwindenlassen der Spuren der Vergangenheit« schrieb Anselm Kiefer 2013. Der deutsche Künstler, am Ende des Krieges geboren, verfolgt in seinem Schaffen seit den 1970er-Jahren das Ziel, in der intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Mythologien seines Heimatlandes ein Gedächtnis wiederherzustellen.

Bekannt ist Kiefer vor allem durch seine skulpturalen Landschafts- und Materialbilder, doch fahndet er auch in Holzschnittcollagen nach dem Verdrängten in der Last der Geschichte einer traumatisierten Nation. 1974 erprobt er erstmals die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten des Hochdruckverfahrens: Er fertigt täglich jeweils einen Porträtkopf eines Repräsentanten der deutschen Kultur und Geschichte, den er nach Vorlagen aus historischen Büchern der nationalsozialistischen Ära in Lindenholz schneidet. Erst ab 1976 integriert er einzelne dieser Porträts in seine monumentalen Kompositionen – ein für Anselm Kiefer übliches Verfahren. Oft verbindet der Künstler Drucke verschiedener Jahrzehnte und verschmilzt sie – dem Prinzip der Collage folgend – zu originären Kunstwerken, die er anschließend malerisch überarbeitet. Häufig verwendet er dabei Acrylfarbe oder Schellack, der den Arbeiten eine historische Patina verleiht. Jedes Blatt ist ein Unikat, die einzelnen Holzschnitte werden ohne Ausnahme mit der Hand, nie mit einer Druckerpresse hergestellt. Gelegentlich bezieht Kiefer bewusst die Maserung, die Struktur der Bretter und Planken in seine Drucke ein, verwendet gar verwitterte Holzlatten oder benutzt Holzsorten mit besonders ausgeprägter Binnenzeichnung.

Anselm Kiefers unablässige Beschäftigung mit der fatalen deutschen Vergangenheit und ethischen Fragen der Gegenwart machen ihn zu dem »größten Historienmaler« (Werner Spies) unserer Zeit. Er schafft jedoch keine heroisch-pathetischen Bilder, sondern rückt die dunklen Flecken in der Geschichte Deutschlands in den Mittelpunkt: »die Tragödie, die Deutschland über die Welt brachte, die Hinfälligkeit alles Großen« (Klaus Albrecht Schröder). Kiefers aus der deutschen Nationalgeschichte schöpfenden Werke zielen auf eine Bewusstmachung, ohne dabei anklagend zu sein. Dieser vieldeutige Umgang mit tabuisierten Inhalten entfachte in der deutschen Kunstkritik jahrzehntelange Kontroversen, man übersah den »löchrigen Boden«, so Kiefer, auf dem sein Pathos gebaut war: Bei der Biennale Venedig im Jahre 1980 etwa verursachten seine Verwendung »deutscher Motive« und die »scheinbar affirmative« Herangehensweise großen Aufruhr und hefteten Kiefer über Jahre das Etikett eines mit neofaschistischer Ideologie sympathisierenden Künstlers mit einer »Überdosis an Teutschem« (Frankfurter Allgemeine Zeitung) an. Erst die schrittweise Anerkennung im Ausland, vor allem auch die positive Resonanz in Israel und in den USA, beförderte die Wertschätzung der Künstlers auch in seinem Heimatland. Die Verleihung zahlreicher renommierter Preise an Anselm Kiefer – darunter der Wolf-Preis (1990), der Praemium Imperiale (1999), der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2008) oder die Leo-Baeck-Medaille (2011) – rehabilitierten den Künstler vollständig. Heute zählt Kiefer zu den bedeutendsten Künstlern weltweit, er gilt gar als »Superstar der internationalen Kunstszene« (Der Spiegel).

Als Quellen seiner Inspiration bemüht Kiefer neben Geschichte und germanischer Mythenwelt auch christliche Religion, jüdische Mystik, Natur, Literatur und Musik und verschmilzt die Motive zu einem ganz eigenen, »epischen und physisch bezwingenden« Bilderkosmos (aus der Jury-Begründung anlässlich der Verleihung des Wolf-Preises).
Mit der umfangreichen Holzschnittserie Der Rhein etwa verbindet der Künstler ab Anfang der Achtzigerjahre Deutschlands Geschichte mit seinen Mythen. Der Rhein ist Sinnbild für den deutschen Nationalismus, zahlreiche Sagen und Legenden ranken sich um ihn, insbesondere in der vom Naturgefühl bestimmten Epoche der Romantik war er Gegenstand von Gedichten und Liedern. Immer wieder werden die am Rhein verortete mittelalterliche Heldendichtung Nibelungenlied und Richard Wagners Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, die von der nationalsozialistischen Propaganda instrumentalisiert wurden, Ausgangspunkt für eine künstlerische Beschäftigung Kiefers. Brünhilde und ihr Pferd Grane tauchen in den Holzschnitten ebenso auf wie die Rheintöchter Woglinde, Wellgunde und Floßhilde. Zugleich ist der Rhein Grenzfluss und wird für den Künstler, der unweit des Stromes aufwuchs und zwischen Bunkern und Ruinen spielte, »zum sichtbaren Symbol dafür, dass jede Grenze eine Illusion sei« (Antonia Hoerschelmann) – eine sehr zeitgemäße Vorstellung. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erinnerte sich Kiefer an Erlebnisse aus Kindertagen: »Die Grenze aber war eine fließende, nicht nur, weil ein Fluss fließt, sondern der Fluss schwoll im Frühjahr durch die Schneeschmelze in den Alpen an, verbreiterte sich gewaltig, floss in die alten Rheinarme, überschwemmte das Land und füllte den Keller unseres Hauses an. Wo war nun die Grenze? Da, wo das Bett des Rheins in ruhigeren Zeiten ist oder in deinem Keller? Die Grenze war ins eigene Haus eingekehrt.« Subjektive Erinnerungsreste des Künstlers verbinden sich mit dem kollektiven Erbe der Deutschen: Häufig thronen in Kiefers Rheinlandschaften die Militäranlagen zweier historischer Verteidigungslinien, des Atlantikwalls sowie der Maginot-Linie. Diese Ruinen des Zweiten Weltkrieges sind für den Künstler Symbole für Verwandlung und »das Schönste überhaupt. Dass immer etwas Neues entsteht, dass die alten Bezüge aufgehoben sind, dass etwas in einer bestimmten Zwischenlage ist.«

Auch in seiner Bilderfolge Wege der Weltweisheit: Die Hermannsschlacht – mit einer frühen Variante löste er auf der Biennale Venedig 1980 die oben angedeutete Debatte aus – umkreist der Künstler die nationalsozialistische Vereinnahmung historischer Gestalten. Die großformatigen Collagen basieren auf zwei überdimensionalen Künstlerbüchern Anselm Kiefers, in denen wichtige Repräsentanten der deutschen Kulturgeschichte in Form von Holzschnittporträts wiedergegeben waren: Ein erstes mit dem Titel Wege der Weltweisheit, das Persönlichkeiten aus dem bürgerlich-republikanischen Gottfried-Keller-Kreis zeigte, ein zweites mit dem Namen Die Hermannsschlacht, das Porträts von Dichtern und Philosophen wie Hölderlin, Eichendorff, Kant oder Heidegger versammelte. In der Arbeit führt Kiefer so Geistesgrößen aus dem links- und dem rechtsbürgerlichen Spektrum zusammen und weist letztlich auf deren Missbrauch durch eine menschenverachtende Ideologie. »Indem er die Mythen in dem verheerenden politischen Kontext zeigt, an dessen Erschaffung sie selbst beteiligt waren, konfrontiert er seine Betrachter mit den nach wie vor unterschwellig fortwirkenden Relikten deutscher Mythengläubigkeit« (Sabine Schütz).

Seit den Neunzigerjahren erweitert Anselm Kiefer seine Quellen und Bildaussagen und stützt sich auf breite philosophische und literarische Referenzen von Johannes vom Kreuz bis Immanuel Kant, von Francisco de Quevedo y Villegas und Pierre Corneille bis hin zu Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Aus der Beschäftigung mit dem englischen Renaissancegelehrten Robert Fludd gehen Werke hervor, die den Künstler selbst in Harmonie mit dem Universum darstellen, in der festen Überzeugung, dass »wir die Membran zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos sind.«

veröffentlicht am 11.5.2016 – Stefanie Gommel
Veröffentlicht am: 11.05.2016