INTERVIEW MIT WOLFGANG SCHEPPE

»Eine Sehschule und Landkarte für den Flaneur der Gegenwart.«  Meike Gatermann, Presseleitung des Hatje Cantz Verlags, im Gespräch mit Wolfgang Scheppe zum Projekt Migropolis, das die die globale Mobilität von Menschen, Waren und Bildern am Beispiel Venedigs untersucht.

Was verbirgt sich hinter dem Titel Migropolis?

Natürlich ist es die Fügung der griechischen Wortwurzel für Stadt mit dem Terminus der Migration. Wir untersuchen die globale Mobilität von Menschen, Waren und Bildern am Beispiel Venedigs. Der Titel spielt aber auch mit seinem Gleichklang zu Monopoly , dem Spiel. Das hat einen Grund: Das Spielbrett ist die einzige gesellschaftlich gelernte Form, Raum und Ökonomie auf eine visuelle Weise zusammenzuschließen. Es liefert also die Grundidee zu einer Kartographie der globalisierten Stadt.

Wie kam das Projekt zustande?

Ich lehre Philosophie und Bildtheorie an der IUAV Universität in Venedig. Diese Stadt ist als Ganzes ein Bild geworden, das sich als festes ikonisches Vorurteil im Reisegepäck des Touristen befindet, aber auch ein Bild, das sich von der Stadt wie in einer Kopiermaschine ablöst und auf die Themenparks in Las Vegas und Macau, aber auch jede deutsche Eisdiele, die mit Rialtobrücke und Gondelmotiv dekoriert ist, appliziert werden kann. Diese bildgewordene Stadt wieder abzubilden – in all ihren Facetten – war unser Anliegen. Weil wir im Verlauf des Unternehmens immer mehr einsehen mussten, wie exemplarisch Venedig und die in ihm sich vollziehenden Eskalationen für die Verhältnisse der Globalisierung sind, ist es zu dieser schieren Größe angewachsen.

Ein brisantes Detail ist ja der Schwarzmarkt mit Raubkopien von Markenhandtaschen. Was haben Sie hierzu herausgefunden?

Wenn eine Stadt ein gewaltiges Geschäft mit mehr als 20 Millionen Touristen im Jahr anzieht, ist es eine Notwendigkeit der globalisierten Welt, dass auch eine sogenannte Parallel-Ökonomie entsteht. Eine Schattenwirtschaft, die in Venedig im hellen Licht der Promenaden stattfindet. Das macht dieses Phänomen in Venedig deshalb so sichtbar und führt zu Konflikten mit den mächtigen Vertretern des wahren Geschäfts. Die Protagonisten dieses Schwarzmarkts sind Hersteller, die in vielen Fällen auch die Produzenten der echten Brand-Products sind. Und diejenigen, die das Risiko tragen: Illegal genannte Immigranten, die ihre lange Reise einmal angetreten haben, um Arbeit zu finden, aber im modernen Europa der Grenzsicherungen weder arbeiten noch existieren dürfen. Sie sind daher angewiesen auf informelle Formen des Marktes. Ihrer Armut entspricht die knappe Kasse bei vielen Tagestouristen, die sich nicht mehr als eine falsche Gucci-Tasche aus Plastik als Souvenir leisten können. Die in der laufenden Regierungsperiode entstandene Militarisierung Venedigs hat diese, einst die Stadt kennzeichnende, Subsistenzwirtschaft aber in allerjüngster Zeit fast völlig aufgelöst.

Müssen wir nach der Lektüre des Buchs Venedig mit anderen Augen sehen?

In der heutigen Wirklichkeit der Stadt ist ihre historische Besonderheit nurmehr ein Verkaufsargument der lokalen Tourismuswirtschaft. Ihre Gesetze aber werden im Alltag aller, die in Venedig noch leben, ganz von den Mechanismen der Globalisierung bestimmt. Deren Spuren und Zeichen, obgleich omnipräsent, bleiben dem touristischen Blick verschlossen. Deshalb ist dieses Werk auch eine Sehschule und Landkarte für den Flaneur der Gegenwart.

veröffentlicht am 1.10.2009
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Veröffentlicht am: 20.04.2023