dOCUMENTA (13) – BLICK HINTER DIE KULISSEN: INTERVIEW MIT CAROLYN CHRISTOV-BAKARGIEV

dOCUMENTA (13) – Blick hinter die Kulissen: Fünf Fragen und Notizen an Frau Carolyn Christov-Bakargiev, Künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13)

Welche Rolle spielen die drei Katalogbücher innerhalb des Gesamtrahmens der dOCUMENTA (13)?

Mehr denn je kommt Büchern eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der Ideen zu, die zur dOCUMENTA (13) hinführen, und ich würde sogar sagen, dass es einen Teil der dOCUMENTA (13) gibt, der nur in den Publikationen stattfindet. Mit der Serie 100 Notizen – 100 Gedanken wollen Chus Martínez, die Leiterin der kuratorischen Abteilung, und ich Werke von Schriftstellern und Denkern aus unterschiedlichen Bereichen veröffentlichen, um ihnen eine Plattform zu geben, die der der Künstler vergleichbar ist.

Band 1 des Katalogs, Das Buch der Bücher, reproduziert den gesamten Inhalt der 3000 Seiten der 100 »Notizbücher« und bringt ihn mit Informationen über alle Teilnehmer an der dOCUMENTA (13) und ihre ausgestellten Werke, mit einführenden Essays, einer Leseliste und dem Stichwortverzeichnis für das Buch zusammen. Hier wird ein gewaltiger und langsamer Denkprozess dokumentiert, der in die eigentliche Ausstellung eingewoben ist.

Band 3 des Katalogs, Das Begleitbuch, der Kurzführer durch die Ausstellung, enthält Abbildungen und Texte zu allen 180 an der dOCUMENTA (13) teilnehmenden Künstlern, die alle jeweils eine von ihnen gestaltete Seite zu diesem Buch beigetragen haben. Die kurzen Texte über die Künstler wurden von den Agenten der dOCUMENTA (13) und anderen Autoren verfasst. Die räumliche Erfahrung, die der Besucher der Ausstellung macht, ist mit dem hier in gedruckter Form erzählten räumlichen Konzept verbunden, das ich für die dOCUMENTA (13) entwickelt habe. Das Buch bietet somit einen Rundgang durch die Ausstellung. Außerdem enthält es ausführliche Informationen zu den Workshops, Vorträgen und Konferenzen, aus denen sich »Vielleicht Vermittlung und andere Programme« der dOCUMENTA (13) zusammensetzt.

Das Logbuch, Band 2 des Katalogs, dokumentiert die Ausstellung nicht nur durch Hunderte von Illustrationen, sondern auch anhand von Interviews und einer Auswahl von E-Mails, die bestimmte Wendepunkte in der Entwicklung des Projekts markieren. In diesen Interviews sprechen wir über unser Engagement, unsere Ideen und darüber, was es bedeutet, an der Realisierung einer dOCUMENTA (13) beteiligt zu sein. Darüber hinaus sind in diesem Buch zahlreiche Schnappschüsse von meinen Reisen um die Welt und den Begegnungen und Perspektiven im Vorfeld der Ausstellung reproduziert.

Wie ergänzen die einzelnen Bände einander?

Die drei Bände des Katalogs ergänzen einander zu einer reichen, umfassenden Darstellung der dOCUMENTA (13): Das Buch der Bücher versammelt die Kerngedanken hauptsächlich durch die Spuren des Schreibens und die bedruckte Seite, Das Begleitbuch enthält spezifische Informationen über die einzelnen Kunstwerke und die verschiedenen Schauplätze, während Das Logbuch nicht nur einen visuellen Rundgang durch die Ausstellung bietet, sondern auch einen tiefen Einblick in den Entstehungsprozess der dOCUMENTA (13) im Laufe vieler Jahre. Ohne Bettina Funcke, meine wunderbare Leiterin der Publikationsabteilung, und ihr effizientes Team und ohne die engagierten Mitarbeiter von Hatje Cantz, die von Anfang an an das Projekt geglaubt haben, wäre das alles nicht möglich gewesen.

Liest man die zum Nachdenken anregende Folge von Notizbüchern, bekommt man den Eindruck, dass sie die Summe der Erfahrungen eines Kurators/einer Kuratorin darstellen. Wie ist die Idee zu der Notizbuch-Serie entstanden?

Vor mehr als zwei Jahren kam mir der Gedanke, Notizbücher zu veröffentlichen, diese merkwürdige Form des Schreibens, die zwischen dem Zeichnen und dem Schreiben liegt und ohne Zweifel das Denken in einem vorläufigen Zustand vor Augen führt, beinahe den geheimen verborgenen Raum des Schreibens vor dem eigentlichen Schreiben. Chus und ich hatten die Idee, einen großen Kreis radikaler Denker aus verschiedenen Bereichen und unterschiedlicher Herkunft in den Entwicklungsprozess der dOCUMENTA (13) einzubeziehen, um eine wichtige öffentliche Plattform für Denker entstehen zu lassen, die parallel zu denen für die Künstler existieren sollte. Mit der Veröffentlichung der Notizbücher im Laufe der 18 Monate, die zur Eröffnung der Ausstellung in Kassel im Juni 2012 hinführen, wollten wir dem Publikum die Gelegenheit geben, die sich in der Entwicklung befindenden Ideen für die dOCUMENTA (13) kennenzulernen, und den Teilnehmern an der dOCUMENTA (13) die Möglichkeit bieten, sich von ihnen für ihre eigenen Beiträge inspirieren zu lassen und sich mit der Ausstellung als Ganzer zu identifizieren. Sowohl räumlich als auch zeitlich existieren die Notizbücher über Ausstellung in Kassel hinaus, und das ist für meinen Ansatz von wesentlicher Bedeutung.

Nach welchen Kriterien wählen Sie die Themen und Texte für die Notizbücher aus?

Für gewöhnlich bitte ich einen potentiellen Autor, mir zu sagen, was für ihn oder sie die entscheidendste Frage, das unlösbarste Problem ist – und das führt dann oft zu einem Essay. Manchmal bitte ich mehrere Autoren, ein und dieselbe Frage zu behandeln; zum Beispiel habe ich Judith Butler, Etel Adnan und Michael Hardt gebeten, sich mit der Frage der Liebe und ihrer Möglichkeit zu befassen, und alle drei sind aus einer jeweils anderen Perspektive an diese Frage herangegangen. Chus und ich und andere Agenten wie etwa Rene Gabri und Ayreen Anastas oder Marta Kuzma oder Raimundas Malašauskas haben Autoren um Beiträge gebeten, und in einigen Fällen habe ich Künstler und Autoren zusammengebracht, zum Beispiel Emily Jacir und Susan Buck-Morss, die dann innerhalb der Beschränkungen der bedruckten Seite freie Hand haben. Oft bedeutet das, dass sie mit Texten ihrer Wahl arbeiten und auf diese Texte reagieren.

Außerdem haben wir Gelehrte und Künstler aufgefordert, »historische« Notizbuchseiten mit Einführungen und Erläuterungen zu versehen, um das nachgedruckte/reproduzierte Material zu kontextualisieren. So hat zum Beispiel Lars Bang Larsen einführende Worte zu Seiten aus den Tagebüchern von Erkki Kurenniemi verfasst. Alle, die einen Beitrag geleistet haben, haben mein Denken auf meinem Weg zur dOCUMENTA (13) beeinflusst. Die verschiedenen Disziplinen und Denkrichtungen drücken sich auf ihre jeweils eigene Weise aus und interagieren in den unterschiedlichen Formaten und Sprechweisen – ein zentraler Gedanke für die dOCUMENTA (13). Die Themenfelder und Denkschulen reichen von radikalen Wissenschaften und Technologien wie etwa der Quantenphysik und ihren Verbindungen mit den ältesten Traditionen bis hin zur Ökologie, Lyrik und Ortsgeschichte. Das Archiv und das Künstlerbuch, Zusammenbruch und Wiederbelebung, hier kommen sie zusammen.

Welche Hauptideen oder Cluster von Ideen liegen den Notizbüchern zugrunde?

Der Anspruch ist hoch, auch wenn es wichtig für die Notizbücher ist, dass sie zugleich bescheiden daherkommen. Es gibt ein generelles Bedürfnis nach einer neuen Methodologie, insbesondere aber auch mit Blick darauf, wie wir über Kunst sprechen und warum wir Kunst betrachten – zusammengenommen sagen die Notizbücher aus, dass wir über die Kunst hinausgehen müssen, um zum Kern der Kunst vorzudringen, das heißt an einige der größeren Fragen heranzugehen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Autoren und Künstler laden wir ein, ihr Denken als einen Prozess mit uns zu teilen. Wir wollen keine endgültigen Wahrheiten oder voll ausgearbeitete Thesen. Wir möchten miterleben können, wie das Denken sich entwickelt, dass es ein freier Prozess ist, ein chaotischer und poetischer Prozess, der nie ein endgültiges Ergebnis hat.

Aber die politische Frage – welche Rolle die Kunst in der Gesellschaft spielen kann und wie Kunst und Denken auf den Wissenskapitalismus und die Finanzwelt und ihre Ungerechtigkeiten reagieren können – ist ohne Zweifel ein roter Faden, der sich sowohl durch die Notizbücher als auch durch die Ausstellung zieht. Ein weiterer roter Faden ist die Frage, wie wir uns ein weniger anthropozentrisches Universum vorstellen können, eine Welt des Denkens und des aktiven Lebens, die nicht so sehr allein auf Menschen zentriert ist und in der die Ausgewogenheit der wirkenden Kräfte stärker berücksichtigt wird, einschließlich derer aller belebten und unbelebten Macher der Welt.

Deshalb bin ich als die künstlerische Leiterin der dOCUMENTA bekannt, die sich für die Positionen und Perspektiven von Hunden interessiert – das stimmt, und das meine ich sehr ernst, und nicht nur für die von Hunden, sondern auch für die von Meteoriten und Objekten, einschließlich künstlerischen Objekten. Für das Geheimnis dieser Dinge, die wir Kunst nennen – für ihre Perspektiven, und nicht unsere auf sie!

veröffentlicht am 5.6.2012
Veröffentlicht am: 20.04.2023