INTERVIEW MIT MATTHIAS STEINKRAUS

Matthias Steinkraus dokumentierte von 2010 bis 2016 den ikonischen Wohnkomplex am Kottbusser Tor und das berüchtigte 24-Stunden-Bierlokal »Rote Rose«. Die Anwohner und die Entwicklung des Kiezes stehen in Steinkraus‘ Aufnahmen exemplarisch für die Verdrängung eines alteingesessenen Milieus. Unverstellt und meist nachts fängt der Künstler sein Umfeld ein. Im Interview mit Leona Koldehoff erzählt er von dem Konzept hinter seiner Arbeit.

Die Fotografien, die in der Roten Rose zu sehen sind, sind in einem Zeitraum von knapp sieben Jahren im Umfeld des Neuen Kreuzberger Zentrums entstanden. Warum hast du begonnen, Dich mit dieser Gegend fotografisch auseinanderzusetzen?

Ursprünglich komme ich von der Malerei. Zwei Jahre nach meinem Studium steckte ich damit bereits in einer Sackgasse fest. Um das irgendwie auszusitzen, bin ich in dieser Zeit viel in Bars gegangen. Nun bin ich kurzen Wegen sehr zugetan und das Neue Kreuzberger Zentrum liegt in unmittelbarer Nähe zu meiner Wohnung – und praktisch immer auf dem Weg, egal wohin. In der Kombination habe ich das Ganze dann für mich als Material entdeckt. Anfangs hatte ich starke Vorbehalte, mich diesem Themenbereich mit einem mechanisch bildgebenden Verfahren zu nähern. Vor allem weil ich mich so nur noch zu Vorgefundenem verhalten konnte. Am Ende habe ich das Malen aber sein lassen und mich für die Fotografie entschieden.

 In einem unserer ersten Gespräche hast du viel über das Verhältnis zwischen fotografischer Technik, analoger und digitaler Fotografie, und dem Thema des Buches gesprochen. Inwiefern ist die Verwendung beider fotografischer Techniken relevant für die Abbildung?

Jenseits der Fragen fotografischer Materialität habe ich mich für die Gegenüberstellung beider Techniken interessiert, weil das einen Rahmen schafft, formal aufzugreifen, was inhaltlich verhandelt wird. Zentraler Ausgangspunkt ist ja immer die Frage »Was liegt hinter den Dingen?«. Wie ist Gegenwart zu lesen und wie kann man fotografisch entsprechend darauf reagieren? Das Buch liefert ja nicht nur einen Mitschnitt aus dieser Zeit und Gegend, sondern unter Verwendung der verfügbaren Bandbreite analoger und digitaler Fotografie auch einen technischen. Daraus ergibt sich gewissermaßen ein kulturgeschichtliches Echo, zwischen einer überkommenen Technologie und der nachfolgenden, in dem sich zwischen diesen beiden Polen das Buch formatiert. Wesentlich dabei ist, dass die Fotografie als bezeichnende Erfindung der post- und spätindustriellen Gesellschaften technologischen Fortschritt unmittelbar widerspiegelt. Verändert sich Technologie, verändert sich die Fotografie mit ihr. Die allgemeine Verfasstheit der Gegenwart lässt sich als Zeit des Übergangs beschreiben. Die Bewegung – weg vom Analogen hin zum Digitalen – ermöglicht für den Moment einen enormen Umfang an Aufnahmetechniken. Für diesen Umbruch im Verhältnis Mensch und Technik ausschließlich das eine oder das andere zu verwenden, wäre eine rückwärts gewandte Annäherung an das Thema.

Hiermit spielst du auf eine ähnlich verlaufende Verdrängungsbewegung von fotografischer Technik und sozialem Milieu an?

Das soziale Milieu, das ich fotografiert habe, wird zunehmend unsichtbar. Das geht vor allem auf ein neoliberales System zurück. Wer sich heute nicht in Richtung gängige Standards aktualisiert, fliegt raus.

Ging es Dir beim Fotografieren also auch darum, etwas im Verschwinden begriffenes fotografisch festzuhalten? Auf visueller Ebene reflektierst du ja oftmals das Verhältnis von Oberflächen und den darunter liegenden Schichten. Über die Materialität der abgebildeten Sujets kommst du so zu einem bereits angesprochenen Thema des Buches: der Verbindung und das Verhältnis zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem.

In gewisser Weise trifft das zu. Unabhängig davon, wie man sich auf das Sozialdokumentarische bezieht, ist etwas »festzuhalten« dabei nach wie vor das Programm, das dem Dokumentieren eingeschrieben ist. Ich habe die Eckkneipen immer als Schutzraum einer »verunglückten« städtebaulichen Utopie verstanden. Zeit-Raum-Kapseln, in denen das »alte« Kreuzberg noch wahrnehmbar ist, wohingegen es sich vor der Tür immer weiter verflüchtigt. Als ich mich entschieden habe, den Schritt aus der Bar zu machen und das weitere Umfeld miteinzubeziehen, habe ich meinen Blick auf eben diese Momente oder Situationen gelenkt, in denen sich der ehemalige Charakter diese Stadtteils noch zeigt. Während dieser obligatorischen »Kottikontrollen« habe ich versucht, gegenüber allem offen zu sein, aber auch gleichzeitig den ganzen Bereich systematisch auf die erwähnten Momente hin abzuscannen.

Mit dem Buch bietest du keine konsistente, sondern eine fragmentarische Erzählung an. Welches Potenzial siehst du in dieser Erzählweise?

Bei der Bildabfolge ging es mir darum, den fragmentarischen Charakter der Arbeit durch die Leerstelle als ein vollwertiges Element zu erweitern. Mehr Angebot als Vorgabe, das Inhalte ermöglicht, sie aber nicht automatisch hervorbringt. Hierdurch ist die Arbeit mehr als die Summe ihrer Teile und idealerweise auch mehr als das, wofür ich sie halte. Interessant daran ist, von der technischen Gegenüberstellung mal abgesehen, wie Formate die Inhalte und deren Lesbarkeit verändern.

In welchem Verhältnis siehst du deine Arbeiten zu anderen Positionen der sozialdokumentarischen Fotografie und ihrer Verwendung des Mediums?

Sozialdokumentarische Fotografie ist ein totes Genre. Gängige Deklinationsschemata, die man einfach so durchfeuert und denkt, man hätte damit etwas erklärt, interessieren mich nicht. Durchdeklinieren macht alles kaputt. Ich breche ja nicht mit den tradierten Methoden um des Brechens willen, sondern weil es meiner Form von Wahrheit entspricht. Zumal wenn man sich anschaut, was formal in der Malerei bereits alles verhandelt wurde, wie unterschiedlichste »Vokabulare« ihre Anwendung finden, fragt man sich natürlich schon, warum in der Fotografie wenig über den Zusammenhang von der Materialität des Mediums und dem Abgebildeten reflektiert wird. Auffällig ist auch, dass Vieles dabei mit einer Schwäche für das Serielle vonstatten geht. Das Serielle ist mir zu seriös. Die Nähe zum Sozialdokumentarischen lässt sich vielleicht am ehesten im Sinne einer Aneignung durch Nachahmung, die den Kommentar gleich mitliefert, begreifen. Die Problematik bestand also darin, sich innerhalb enger Grenzen so frei wie möglich zu bewegen. Das heterogene Bildmaterial ist für sich genommen schon ein Widerstand gegen die gewählte Struktur, die den abgesteckten Parcours bereits vorgibt. Wobei ich gezielt versucht habe, an den Hindernissen vorbeizuspringen. Dazu gehört auch, bestimmte Klischees visuell zu parodieren, auf die Spitze zu treiben und Momente miteinzubeziehen, über die man im Verlauf des Buches immer wieder stolpert. Unter einem anderem Vorzeichen ist es, glaube ich, heute auch nicht mehr möglich, eine Diskokugel zu zeigen.

Die Portraits funktionieren wiederum sehr anders. Sie zeigen Personen, die zwischen den hippen jungen Menschen mit engagiert ausgewählter Garderobe und der vor allem türkischgeprägten Community in der alltäglichen Wahrnehmung weniger sichtbar sind, aber die Umgebung um das Neue Kreuzberger Zentrum prägen. Ich denke, dass viele Leute, die die Rote Rose in der Hand halten oder dieses Interview lesen, eher nicht in Kontakt mit ihnen kommen. Wie bist du an sie herangetreten?

In Bezug auf die Porträts möchte ich vorwegnehmen, dass ich nicht die Menschen »parodiere«, sondern Sozialdokumentarismus mit seinen genretypischen Motiven. Aber du hast Recht. Es ist ein Milieu, das für die meisten nicht unbedingt sichtbar und zugänglich ist. Ich bin von Natur aus neugierig und komme schnell mit Menschen in Kontakt. Daher habe ich sie einfach angesprochen. Bis auf ein, zwei Ausnahmen lief das alles immer sehr herzlich ab. Anfangs sind die Meisten skeptisch, auch weil sie merken, dass sie oft nicht wahrgenommen werden. Aber sobald sie eine ehrliche Haltung erkennen, freuen sie sich über das Interesse. In den Porträts spiegeln sich aber auch die Begegnungen, die ich mit den Menschen hatte. Mal bin ich mehr Beobachter der Situation, mal bin ich mehr im Geschehen involviert und in einen direkten Austausch mit den Porträtierten. So trete ich in den Fotografien entgegen der gängigen Muster auch als Gegenüber in Erscheinung. Mir wurde einmal gesagt, dass man manchen Bildern auch den Weg von der Bar nach Hause ansehe. Das fand ich für das Präsentsein in der eigenen Arbeit eine schöne Formulierung.

Wie hängt die Rote Rose mit deinen anschließenden Projekten zusammen?

Man hängt ja irgendwie immer in verschiedenen Arbeiten fest. Aber was die Rote Rose betrifft, bildet sie den ersten Teil eines dreiteiligen Zyklus über Berlin Kreuzberg. In dem Buch verdichten sich 80 Bilder aus einer Arbeit von insgesamt etwa 300 Fotografien. Der „Roten Rose“ liegt ein Prozess zu Grunde, der gerade dabei ist sich zu vollziehen. Das Folgeprojekt behandelt die Umwandlung und den Verfall neoliberaler Architekturen, die bis auf die Zeit des Wirtschaftswunders zurückgehen und innerhalb der Arbeit eine Entwicklung verhandeln, die sich bereits vollzogen hat. Obwohl sich die ersten beiden Teile im Schatten einer neoliberalen Ökonomie vollziehen, wäre es zu kurz gegriffen, sie ausschließlich unter dem Vorzeichen reiner Kapitalismuskritik zu begreifen. Auch weil dabei nicht eine direkte Beschreibung der Wirklichkeit im Vordergrund steht. Der dritte Teil dagegen thematisiert das Leben mit seinen absurden Momenten, wie sie sich im Alltag selten zeigen. Im Zyklus erhält jeder Teil durch eine jeweils spezifische Art der Umsetzung einen autonomen Charakter, der sowohl für sich genommen als auch in der Summe eine jeweils eigene Lesbarkeit ermöglicht. Allen Teilen ist eine Aktualität eingeschrieben, die morgen nicht überholt sein wird und die in der Gänze einen überzeitlichen Hallraum bilden. Ohne dabei das konkret berlinspezifische herauszuarbeiten, treten inhaltlich verschiedene Themenkomplexe in den Vordergrund, die den bezeichnenden Charakter dieses Stadtteils unter Einfluss globaler Tendenzen verhandeln. Damit können die aufgegriffen Themen sowohl global als auch lokal und so immer als gesellschaftlicher Befund gelesen werden. Auch wenn Begriffe wie Fotografie, Kreuzberg, Zyklus und Kapitalismuskritik bei vielen Leser/innen erst mal automatisch zum »Zuschnappen« des Buches führen, liegt meinen Arbeiten dennoch ein Fotografieverständnis zu Grunde, welches das Dilemma des Mediums - nämlich immer auch gesellschaftliches Gedächtnis und soziales Dokument zu sein – aufgreift, ohne dem Ganzen die Leichtigkeit zu nehmen.

Leona Koldehoff (*1991) hat Kunst- und Bildgeschichte und Philosophie in Berlin studiert. Sie arbeitet als kuratorische und künstlerische Assistentin.

veröffentlicht am 22.5.2018

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