INTERVIEW MIT LATIF AL ANI

Latif Al Ani, 1932 in Bagdad geboren gilt als Gründungsvater der irakischen Fotografie. Seine Schwarz-Weiß-Fotografien dokumentierte das Leben im weltoffenen Irak der 1950er- bis 1970er-Jahre und verkörpern heute ein einzigartiges Bildgedächtnis des Landes. Ende der 1970er-Jahre stellte Al Ani unter dem Druck des Hussein-Regimes seine fotografische Arbeit ein. Die Ausstellung des irakischen Pavillons auf der Biennale in Venedig 2016 präsentierte frühe Werke des Fotografen und machte sowohl die Modernisierung als auch den Erhalt alter Traditionen als Themen in Al Anis Werk sichtbar. Nun erscheint eine Monografie über die Latif Al Ani mit Tamara Chalabi spricht.

Einige Ihrer Fotografien beschäftigen sich mit der archäologischen Vergangenheit des Iraks und mit seinen großen Denkmälern, eine Menge Aufnahmen zeigen jedoch auch die moderne Stadt in den 1950er- und 1960er-Jahren. Es scheint gar so, als wären die modernen Fotos ein Ausblick in die Zukunft, mit der Vergangenheit im Hintergrund. War es Ihr Ziel, damit eine dem Wandel unterworfene Gesellschaft einzufangen? Wie lassen sich diese beiden Strömungen in Ihren Arbeiten am ehesten verstehen?

Ich wollte unser Erbe im Hinblick auf unsere Gegenwart darstellen, den Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wo wir angelangt sind, im Vergleich zur Vergangenheit. Die Angst, die ich hatte, war genau davor, wie wir heute leben. Es begann mit der Revolution von 1958. Diese Vergangenheit ist dabei, ausgelöscht zu werden; sie wird ausgelöscht. Ich hatte das Gefühl, dass es keinerlei Beständigkeit geben würde. Menschen wurden aufgezehrt und neue Menschen kamen. Die Büchse der Pandora wurde geöffnet und es regierten unwissende Menschen ohne Kultur und ohne Verständnis für die Macht, die sie besaßen. Angst war ein wichtiges Motiv dafür, alles so zu dokumentieren, wie es war. Ich tat alles, was ich nur konnte, um zu dokumentieren, um diese Zeit zu bewahren.

In Ihren Arbeiten setzen Sie sich in erster Linie mit Gegenständen, Menschen, Archäologie und urbanem Leben auseinander. Das ist ein sehr persönlicher Blickwinkel. Gleichzeitig waren Sie auch beim Ministerium für Kultur und Information angestellt. Inwiefern war das, was Sie taten, durch offizielle Richtlinien »inspiriert«?

Das war ich. Sie waren glücklich mit dem was ich tat. 1960 gründete ich die Abteilung für Fotografie im Ministerium für Information [später auch für Kultur], wie es damals hieß. Ich wechselte dorthin von der Iraqi Petroleum Company (IPC), die ihre Aktivitäten aufgrund ihres Verstaatlichungsdekrets ohnehin zurückgeschraubt hatte. Sie wollten mich. Ich war der einzige im Irak, der wusste, wie man Farbfotografien entwickelt. Ich akzeptierte unter der Bedingung, dass sie mir ein höheres Gehalt auszahlten, als sie mir ursprünglich angeboten hatten. Ich stellte einen Assistenten an, Halim al-Khatat, der später zu einem bekannten Fotografen werden sollte, und ich bildete auch Bulus Hanna aus. Wir hatten unsere eigene Abteilung im Ministerium, gleich gegenüber dem Verteidigungsministerium auf der Rashid Street.
Ich verwendete für gewöhnlich ein 6x6-Rolleiflex und einen 35-mm-Agfa-Film. Der beste Film auf dem Markt war Kodak, den ich bei Hassou Ikhwan kaufte – dem Einkaufszentrum in der Nähe des Roxy Cinema. Sie waren die Kodak-Vertretung und hatten alle Produkte. Es gab auch andere Geschäfte, die Fotoausstattung verkauften. Fixed war etwa so ein Laden, der auch italienische Produkte führte und Iraqi Sports war ein anderer.
Die Abteilung gab diese Zeitschrift heraus, New Iraq, die in fünf verschiedenen Sprachen erschien: Arabisch, Kurdisch, Englisch, Französisch und Deutsch. Sie wurde an alle ausländischen diplomatischen Vertreter und an die internationalen Organisationen geliefert, die im Irak arbeiteten. Ich bereiste den gesamten Irak, um die soziale Lage festzuhalten: Industrie, Kultur, Landwirtschaft, Arbeiter, Maschinen. Das passte zur sozialistischen Botschaft der damaligen Regierung. Stets verpackte ich die Botschaft bedenkenlos in ein schönes Bild. Mein Anliegen war die Schönheit des Bildes, nicht die Politik. Das war mein Credo. Die Angst hatte da bereits, wie schon erwähnt, von mir Besitz ergriffen, doch ich nutzte diesen Job, um zu dokumentieren.

Wie wurden Sie professioneller Fotograf?

Fotografie war ein Hobby für mich. Es gab einen jüdischen Fotografen, Nissan, der ein Atelier hatte. Er war der Nachbar meines Bruders auf der Mutanabi Street. Wenn ich meinem Bruder in seinem Laden aushalf, dann besuchte ich Nissan für gewöhnlich. Er brachte mir bei, wie man mit einer Sofortbildkamera umgeht und gab mir einige Tipps. Mein Bruder kaufte mir meine erste Kamera, als er bemerkte, wie sehr mich das alles interessierte. Sie kostete ungefähr eineinhalb irakische Dinar. Das war 1947 und ich war fünfzehn Jahre alt. Es war eine Kodak-Box, die ich nie aus der Hand gegeben habe. Meine ersten Fotos waren Aufnahmen aus dem Leben: Palmen, Pflanzen, Gesichter, Menschen auf Dächern. Die Fotografie war im Irak immer noch ziemlich neu.
Ich hatte einen Freund, Aziz Ajam, der Herausgeber der arabisch-sprachigen Zeitschrift der ICP war, Ahl al-Naft. Sie waren auf der Suche nach Praktikanten und ich bewarb mich. Jack Percival stellte mich ein. Dort lernte ich alles. Er war mein Chef, mein Lehrer und mein geistiger Vater. Mein Vater starb, als ich noch sehr klein war. Als Jack starb, war ich einer seiner Sargträger. Es war sein Wunsch gewesen.

Wie haben Sie sich beim Blick durch die Linse gefühlt?

Ich konnte es gar nicht erwarten, den entwickelten Film und damit das endgültige Ergebnis zu sehen. Extrem ungeduldig, hungrig und verzweifelt wartete ich auf das, was ich da aufgenommen hatte. 

Weshalb lachen Sie?

Ich erinnere mich sehr deutlich an die Aufregung. An diese Zeit habe ich gute Erinnerungen.

Wo ließen Sie Ihre Filme entwickeln?

In Fotogeschäften in der Rashid Street.

Was war mit der Kamera? Haben Sie sich dahinter versteckt? Haben Sie Dinge beobachtet, die nicht für Ihre Augen bestimmt waren?

Nein! Die Dinge waren damals anders. Es gab strengere soziale Standards, die Menschen waren damals höflich. Auch ich war es. Ich habe also keine Regeln gebrochen.

Ihre Kamera muss bei den Menschen, die Sie fotografierten, ebenso viel Aufmerksamkeit erregt haben wie andersherum diese bei Ihnen. Sie betrachteten sie und diese betrachteten wiederum Sie.

Ja, wir haben einander betrachtet. Es war stets ein Ereignis, wenn ich mit meiner Kamera irgendwohin kam. Die Leute haben sich versammelt. Sie wurde zu meiner sozialen Identität; sie verlieh mir eine gewisse Autorität, verschaffte mir Respekt, und die Menschen reagierten wohlwollend darauf, da jedermann sich fotografieren lassen wollte. Oft habe ich vorgegeben, jemanden zu fotografieren, obwohl ich eigentlich etwas ganz anderes im Visier hatte. Die Leute wollten immer die Linse berühren. 

Ich kann mir vorstellen, dass es zu jener Zeit nicht einfach war, Fotograf zu sein.

Meine Liebe zur Fotografie hat mir Mut gemacht. Sie hat mich dazu getrieben, alle Hindernisse zu überwinden. Damals gab es im Irak kaum Fotografen. Es war etwas Neues. 

Haben Sie je daran gedacht, etwas anderes auszuprobieren? Film, zum Beispiel, oder Malerei?

1947 habe ich ein wenig mit Schauspielerei und Theater experimentiert. Ich erinnere mich an einen Freund, Jabbar Rashid, aus einer der Schulen, die ich besuchte – eine Abendschule, da ich tagsüber im Geschäft meines Bruders arbeitete. Das Leben war nicht einfach. Dennoch, sein Bruder war ein bekannter Kameramann und er erzählte uns von dieser Theater-Schule in Saadoun. Die Einschreibegebühr war ein Dinar. Ich erinnere mich an die Werbung für die Schule, die auf öffentlichen Bussen zu sehen war. Ich versuchte es für eine Weile, Vorlesungen über Theater und Aufführungen. Es hat mich nicht so sehr in seinen Bann gezogen wie die Kamera, aber ich wollte experimentieren.

(...)

Das komplette Interview ist im Original in englischer Sprache geführt worden und in der Monografie Latif Al Ani nachzulesen. Für die deutsche Übersetzung des Interviewauszugs möchten wir uns herzlich bei Alexandra Titze-Grabec bedanken.

veröffentlicht am 20.6.2017

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