Ralf Hanselle

Ralf Hanselle, geboren 1972, arbeitet als Kunstkritiker in Berlin. Seine Texte zur Fotografie und anderen Bildmedien erscheinen regelmäßig in Publikationen wie Cicero, mare, Kunstzeitung, fotoMAGAZIN sowie in der Tageszeitung taz. In der Fotozeitschrift Profifoto kann man seit acht Jahren seine Interview-Reihe „Ralf Hanselle im Gespräch....“ verfolgen, in welcher er allmonatlich internationale Fotokünstler zu ihren Arbeiten befragt. Weit spielerischer ist seine Auseinandersetzung mit dem Medium in der Kolumne „Gegenlicht“, die seit einem Jahr in der Zeitschrift Photographie erscheint. Neben journalistischen Texten hat er in den letzten Jahren auch zahlreiche Katalog- und Buchbeiträge verfasst.

Ralf Hanselle, born in 1972, is a Berlin-based art critic. His texts on photography and other visual media appear regularly in publications such as Cicero, mare, Kunstzeitung, fotoMAGAZIN, and the taz daily newspaper. For the past eight years readers of the photography magazine Profifoto have been following his series Ralf Hanselle in Conversation…, in which he interviews international photographers about their work. His exploration of the medium is more playful in his column, “Gegenlicht," which has been appearing in Photographie magazine for a year. Besides his journalism pieces, Hanselle has also written numerous texts for catalogues and books.

Manifest des Tabularismus

Manifest des Tabularismus

Sieben Thesen für die Erneuerung der Fotografie

  1. Von heute an ist die Fotografie tot. Alle Abbilder sind gemacht; alle Wiedergaben sind verfertigt. Und doch ist man der Welt nicht nähergekommen. Die letzten Bilder stehen noch aus. Der Tabularismus umfasst die letzten Bilder der Fotografie.

  2. Der Tabularismus ist Zeichen und keine Bezeichnung. Er bezeugt nicht, was in der Welt ist; er ist die Welt selber. Er ist Bild und niemals Abbild. Mit dem Tabularismus kommt die Fotografie zu sich selbst.

  3. Der Tabularismus ist ein Zerstörer. Er rüttelt an der Hülle des Weltraums und untergräbt den Behälter der sichtbaren Dinge. Selbst die stürzende Linie wird von ihm noch gebrochen. Mit jeglichen Fluchten steht er im Krieg.

  4. Der Tabularismus ist Schöpfer. Von den Rändern des Sichtbaren her nimmt er sein Licht; von den Erkenntnisresten nimmt er die Schatten. Das Licht und das Dunkel sind seine wahren Motive.

  5. Der Tabularismus ist Spiel. Er ist Tanz und Zerstreuung; er ist Annäherung und Loslösung. Er sucht nicht nach Wahrheit; jede Wahrheit ist Täuschung. Authentisch ist der Tabularismus nur zu sich selbst.

  6. Der Tabularismus ist Kunst. Und als Kunst ist er Freiheit. Er sprengt den Korpus der Apparaturen; er bricht den Willen der Kameraboxen. Jedes harte Gehäuse steht quer zu der Freiheit.

  7. Der Tabularismus ist Zukunft. Und doch ist er eingebettet in eine Geschichte. Er hat Traditionen; er hat Mütter und Väter. Im Dunkel der Aufklärung warten sie auf die Rückkehr des Lichts.

Ralf Hanselle und Stefan Heyne im November 2014

Der Nullpunkt

“Man sieht, was man am besten aus sich sehen kann” C. G. Jung

Der Anfang war das Ende. Als der französische Physiker Francois Arago am 19. August 1839 der Weltöffentlichkeit die Fotografie vorstellte, da war das in gewisser Weise ein Endpunkt. Natürlich, die Technik wurde noch verfeinert. Auf die Daguerreotypie folgte das Negativverfahren, auf Glasplatten folgten Rollfilme. Doch eigentlich war an diesem Sommertag vor 175 Jahren die Sache im wahrsten Sinne des Wortes im Kasten. Das Ziel war erreicht. Das Bild innerhalb einer Kamera lies sich auf chemischen Weg fixieren. Alles andere waren nur “fine tunings”. Selbst als Steven Sasson 1975 ein Bild erstmals nicht mehr chemisch sondern auf elektronischem Wege einschrieb, war das im Grunde genommen nur ein Remake der alten Idee. Mit der Daguerreotypomanie, die die europäische Öffentlichkeit 1839 erfasst haben soll, schien aller Welt klar zu sein, was Fotografie ist.

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Marco Breuer. Ausstellungsansicht in der Yossi Milo Gallery

Vielleicht ist es bei so viel Gewissheit kein Wunder, dass der deutsch-amerikanische Fotokünstler Marco Breuer in der hiesigen Foto-Szene nahezu ein Unbekannter geblieben ist. In einem Land, in dem man alles weiß und in dem man in fotokünstlerischen Dingen zudem noch recht erfolgreich ist, muss man nichts mehr hinterfragen. Die großen Debatten sind geführt. Das Bild ist im Kasten. Ganz anders ist das in Breuers-Wahlheimat New York. Hier lebt der 1966 in Landshut geborene Künstler seit mehr als zwanzig Jahren. In den USA zählt Breuer zu den wichtigsten Fotokünstlern seiner Generation. Seine Werke sind dort längst in allen großen Ausstellungshäusern vertreten - vom Getty Museum über das MoMA bis zum ICP. 

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Untitled (C-1379), 2013
Chromogenic Paper, burned/scraped
20″ × 16″ (50.8 × 40.6 cm)
Unique

Wieso also hat es der Prophet im eigenen Land so schwer? Vielleicht liegt die Breuer-Ignoranz in Deutschland ja tatsächlich an der festen Gewissheiten darüber, was eine Fotografie zu sein habe. In dem Land, in dem Christian Schad einst seine Schadographien entwickelt , in dem Lázló Moholy-Nagy merkwürdige Gegenstände auf unbelichtetes Fotopapier gelegt und Gottfried Jäger sogenannte Lochblendenstrukturen entwickelt hat, hat man den Fotografie-Begriff in den letzten Jahrzehnten etwas ausgedünnt. Eine Fotografie ist heute irgendwas mit Hochöfen, mit Plattenbauten oder Mittelschichtsmief . Keineswegs aber ist sie das, was Marco Breuer darunter versteht: lichtempfindliches Papier.

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Untitled (C-1469), 2014
Chromogenic Paper, exposed/embossed/folded/burned/scraped
20 1/8″ × 14 1/8″ (51.1 × 35.9 cm)
Unique

Man kann vieles mit diesem Papier anstellen: Im Stile der Avantgarden kann man Krawatten, Tapeten und Kaffeefilter darauf legen und es anschließend belichten. Man kann es ritzen, wässern, sogar anzünden. All das hat Marco Breuer in den zurückliegenden Jahren getan. Das Ergebnis sind Spuren des Experimentellen. EInschreibungen des Zufälligen. Materialuntersuchungen. Fotobefragungen. Bilder, die ohne Umwege vom Künstler auf das Material gegangen sind. Sie stellen die Frage nach dem, was Fotografie ist, auf radikale Weise neu. Ist Fotografie ein festgeschriebener Prozess? Ein Weg vom Objekt über die Kamera auf das Papier? Ist sie ein Bildträger? Ein Bedeutungsfeld? Was meinen wir eigentlich genau, wenn wir von Fotografie reden? Vielleicht ist sie vor allem dieses: ein großes Geheimnis. Dann wären Breuers Arbeiten Fotografie im bis dato besten Sinne des Wortes. Dann wäre 1839 nicht das Ende sondern ein immerwährender Anfang. Der Kasten jedenfalls wäre wieder offen.

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Untitled (C-1478), 2014
Chromogenic Paper, burned/scraped
20 3/8″ × 16 1/4″ (51.8 × 41.3 cm)
Unique

Die Vorgeschichte II

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Ausstellungsansicht “Die Bielefelder Schule – Fotokunst im Kontext”

Nachdem ich gestern bereits kurz auf eine Ausstellung in Wolfsburg zur Avantgarde und zum Neuen Sehen aufmerksam gemacht habe, will ich hier noch auf einen anderen, mittlerweile historischen Zweig der Abstraktion hinweisen: die Bielefelder Schule. Auch wenn der Begriff etwas umstritten und die Schule alles andere als monolithisch ist, so hat sie mit Fotologen wie Gottfried Jäger oder Karl Martin Holzhäuser interessante Grundlagenforscher zur Fotografie hervorgebracht. Jägers frühe Anlehnungen an die konkrete Kunst der 1960er Jahre und seine sogenannte “Generative Fotografie”, die er zusammen mit Kilian Breier oder Hein Gravenhorst entwickelt hat, waren eine bewusste Abkehr von der in den Nachkriegsjahrzehnten dominierenden “subjektiven fotografie” eines Otto Steinert. Es ging Jäger und den anderen Bielefelder Künstlern nicht mehr um den abbildenden Charakter sondern um die bildgebenden Potentiale der Fotografie. Später, in den 1980er Jahren, unternahm Gottfried Jäger, der in diesem Jahr mit dem Kulturpreis der DGPh geehrt worden ist, auch interessante Materialbefragungen, die als ästhetische Vorläufer der Arbeiten Christiane Fesers oder Marco Breuers gelten könnten.

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Gottfried Jäger, Generative Arbeiten, Lochblendenstruktur 3.8.14 F, 1967; Camera obscura-Arbeit, Silbergelatineprint, 50×50cm, 2008

In Bielefeld selbst ist derzeit eine umfangreiche Ausstellung zur “Bielefelder Schule” zu sehen. Diese enthält neben den oben beschriebenen Pionierleistungen aber auch zahlreiche andere Positionen, die im Laufe der letzten 50 Jahre an der FH der Stadt entwickelt worden sind. Dabei ist die von Enno Kaufhold kuratierte Rückschau mit zwei Etagen und zahlreichen Nebenräumen derart geräumig, dass auch die Arbeiten von Jäger und Holzhäuser am Ende nicht zu kurz kommen. Besonders ein Blick in die kleinen Nebenräume, in denen unter anderem experimentelle kleine Videos von Gottfried Jäger gezeigt werden, lohnt sich. Zudem sollte man auch die zahlreichen Fotobildbände aus den 70er bis 90er Jahren nicht vergessen. Was damals bereits zum Thema fotografische Abstraktion publiziert worden ist, stellt vieles von heute in den Schatten. Und bei manchen ausgestellten Büchern wünschte man sich eine Neuauflage.

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Karl Martin Holzhäuser, Licht-Bilder, Lichtmalerei, 180.18.2003; Licht auf SW-Barytpapier, Unikat, 120×120cm

 

Und wer darüberhinaus auch noch “klassische” Fotografie sehen will, der sollte die Serien von Katharina Bosse, Andrea Diefenbach oder Jürgen Escher nicht verpassen. Besonders Bosses “A Portrait of the Artist as a young Mother” ist ein Höhepunkt der Bielefelder Ausstellung.

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Ausstellungsansicht “Die Bielefelder Schule – Fotokunst im Kontext”

“Die Bielefelder Schule – Fotokunst im Kontext”. Noch bis zum 7.12.2014. Alte Stadtbibliothek. Bielefeld.

Die Vorgeschichte

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Blick in die Ausstellung “RealSurreal”
Foto: Marek Kruszewski

“Die Formen des Bildes sind gegenüber der Schönheits- und Erkenntnisfunktion autonom.” Conrad Fiedler (1887)

Manche Ausstellungstitel sind irreführend. “RealSurreal” gehört vermutlich mit dazu. Im Kunstmuseum in Wolfsburg sind unter dieser Überschrift zur Zeit Höhepunkte aus der Sammlung des Münchner Filmproduzenten Dietmar Siegert zu sehen. Es sind Fotografien aus den Jahren 1920 – 1950. Doch auch der Untertitel ist verwirrend “Das Neue Sehen. Meisterwerke der Avantgarde Fotografie”. Hier kommt eines zum anderen: Realismus, Surrealismus, Neues Sehen. Später auch noch Neue Sachlichkeit und Poetismus. “Das Sammeln oder die (Un-)Ordnung der Dinge” ist denn auch treffend ein im Ausstellungskatalog enthaltenes Interview mit Dietmar Siegert betitelt.

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Blick in die Ausstellung “RealSurreal”
Foto: Marek Kruszewski

Doch wie immer man die Arbeiten im Obergeschoss des Wolfsburger Kunstmuseums auch katalogisieren will, sie enthalten neben der typisch mimetischen Lichtbildkunst auch zahlreiche Höhepunkte aus der Geschichte der abstrakten Fotografie. Schon das erste Kabinett bietet eine interessante Hinführung. In einer Art historischem Vorspann gibt es hier unter anderem ein Bild des Talbot-Assistenten Nevil Story Maskeline zu sehen. Ein Spitzengewebe aus dem Jahr 1840. Nun wäre dieses Foto einer frühe Klöppel-Arbeit an sich vermutlich nicht interessant. Doch sie ist eines der frühesten Zeugnisse der kameralosen Fotografie. Ein Fotogramm, das weit vor den Experimenten eines Man Rays, Lázló Moholy-Nagys oder Christian Schads entstanden ist.

Deren Arbeiten gibt es im Hauptteil der Ausstellung zu sehen. Eine ganze Wand etwa hat man den Rayographien Man Rays freigeräumt. Dazwischen gibt es Schattenbilder von Raoul Hausmann und Versuchsreihen von Edmund Collein. Es gibt Sandwich-Montagen von Jean Dréville und Solarisationen von Maurice Tabard. Fotogravuren, Frottagen, Collagen…. Alles, was die Avantgarde schon wusste und was heute neu entdeckt werden will.

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Brassaï
Gelegenheitsmagie (Keimende Kartoffel), 1931

Denn wer nach Wolfsburg fährt, der schaut dieser Tage nicht nur auf das Neue Sehen, der besichtigt auch eine kleine Geschichte der Auflösung (im Untergeschoss gibt es dazu passend eine Ausstellung zu Imi Knoebel). Das, was ich in den letzten Wochen als fotografisches Phänomen der Gegenwart habe präsentieren wollen, ist im Kern eben wesentlich älter. In gewisser Weise feiert die abstrakte Fotografie in diesem Jahr sogar ihren 155. Geburtstag. Damals, im Jahr 1859, schrieb der Schriftsteller und Hobby-Fotograf Oliver Wendell Holmes einen für damalige Leser vielleicht merkwürdig klingenden Satz: “Wir fürchten und fast ein wenig davor, Mutmaßungen über die Zukunft der Photographie anzustellen. Die Form wird in Zukunft vom Stoff geschieden sein. Tatsächlich ist der Stoff im Sinne eines sichtbaren Objekts nicht mehr von großem Nutzen, außer als Gußform, durch welche die Form ihre Gestalt erhält.“

Christian P Schmieder

Man Ray
Rayographie (Spirale), 1923

Die Ausstellung “RealSurreal” ist noch bis zum 06.04.2015 im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog im Wienand Verlag erschienen.