LINA BO BARDI

 Lina Bo Bardi 100 © Lina Bo Bardi auf ihrer Japanreise, 1970; Foto: anonym
Lina Bo Bardi (*1914 als Achillina Bo in Rom, †1992 in São Paulo) studierte 1934–1939 als eine der wenigen Frauen ihrer Zeit Architektur. Ihre Laufbahn als Architektin begann sie in Mailand zusammen mit dem Architekten Carlo Pagani, daneben war sie für verschiedene Magazine als Illustratorin, Herausgeberin und Redakteurin tätig, etwa für Gio Ponti und dessen Zeitschriften Lo Stile und Domus. Nach ihrer Hochzeit mit dem brasilianischen Journalisten und Kunstkritiker Pietro Maria Bardi übersiedelte sie 1946 nach Brasilien, wo sie 1948 mit Giancarlo Palanti das Studio d’Arte Palma, eine Firma für Industriedesign, gründete und ab 1949 zahlreiche private und öffentliche Bauten entwarf. 1950 gab sie mit ihrem Ehemann das Magazin Habitat heraus. 1951 erhielt sie die brasilianische Staatsbürgerschaft, ab 1955 hatte sie eine Professur an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung an der Universität von São Paulo inne. 1958 zog sie nach San Salvador de Bahia und stand dort ab 1959 dem Museu de Arte Moderna da Bahia (MAM-BA) als Direktorin vor; 1964 kehrte sie nach São Paulo zurück. In den folgenden Jahren entwarf sie neben ihrer Tätigkeit als Architektin Bühnenbilder und Kostüme für das Teatro Oficina, kuratierte Ausstellungen und entwickelte städtebauliche Konzepte.

Die große Unbekannte – Lina Bo Bardi und ihre Suche nach einer brasilianischen Architektur der Moderne

„Einen Le Corbusier mag man bewundern, einer Lina Bo Bardi sollte man nacheifern. Jetzt und zwar weltweit.“ ⸺ Süddeutsche Zeitung

Wer war Lina Bo Bardi, der Brasilien zwei seiner bekanntesten Bauten verdankt, die in Überblickswerken zur offiziellen Architekturgeschichte jedoch bis vor wenigen Jahren unerwähnt blieben? Wer war diese Frau, deren Gebäude bis zu ihrem Tod 1992 außerhalb Brasiliens unbekannt waren, heute jedoch als Wallfahrtsorte für Architekturbegeisterte aus aller Welt gelten? Wer war die große Unbekannte, die private und öffentliche Gebäude plante, Bühnenbilder entwarf, Mode designte, Zeitschriften herausgab und illustrierte, Ausstellungen kuratierte, Museen gründete und führte, Lehrtätigkeiten übernahm und – last not least – Möbel entwickelte wie den Frei Egidio-Holzstuhl (1987) oder den Bowl Chair (1951), der erst 2013 als Reedition wieder aufgelegt wurde?

Lina Bo Bardi, 1914 als Achillina Bo in Rom geboren, zog 1946 nach Brasilien und beschritt in ihrer Wahlheimat – in Auseinandersetzung mit der Kultur des Landes, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und politischen Diskursen – einen eigenen gestalterischen Weg: Vor allem in ihrer Architektur orientierte sie sich zunächst am Formenkanon der Moderne, verarbeitete diese Impulse aber ganz individuell. Bo Bardi kämpfte leidenschaftlich für eine autonome brasilianische Kultur, erbaut auf den eigenen Wurzeln. In ihrem Werk verband sie daher Zeitgenössisches mit Traditionellem, schöpfte aus volkstümlichen Quellen und legte besonderen Wert auf den Einsatz heimischer Techniken und lokaler, betont einfacher Materialien.

Die frühen Bauten der italienisch-brasilianischen Architektin, darunter auch ihr berühmt gewordenes Museu de Arte de São Paulo (MASP, 1957–1968), atmen noch den Geist der internationalen Moderne und des italienischen Rationalismus. Ihr eigenes Wohnhaus, die Casa de Vidro (»Glashaus«, 1949–1951), ein kühner, auf Stelzen ruhender, quasi über dem Boden schwebender Bungalow, steht in seiner baulichen Klarheit in der Tradition von Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright. Erbaut an einem waldigen Abhang nahe São Paulo, geht die Casa de Vidro eine nahezu symbiotische Verbindung mit ihrer Umgebung, der unberührten Natur, ein, verschwindet quasi in ihr und ist damit ein »lebendiger Organismus», wie ihn Bo Bardi mit Bezug auf die Architektur von Frank Lloyd Wright anstrebte.

Ihre späteren Arbeiten zeichnen sich zunehmend durch den Dialog von Modernität und Volkstradition aus. Bereits ihre Casa do Chame-Chame (»Haus der Natur«, 1958–1964), die nach ihrem Umzug nach San Salvador de Bahia entstand, zeigt Lina Bo Bardis Rückbesinnung auf die brasilianische, von einer Vielzahl afrikanischer Einflüsse geprägten Vergangenheit. Das heute zerstörte Wohnhaus war an seinen Außenmauern über und über mit Kieselsteinen und verschiedenen Objekten wie Muscheln, Keramikscherben, Bruchstücken von Glasflaschen oder Spielzeug bedeckt – in seiner bewussten Einfachheit und Armut des Materials eine gebaute Hommage an die Populärkultur und zugleich eine Absage an eine entnationalisierende Architektur.
Mit ihrem größten Projekt, dem Kultur- und Sportzentrum SESC Pompéia in São Paulo (1977–1986), schuf sie einen (Frei-)Raum ohne Hierarchien, einen Ort für eine breite Öffentlichkeit, der soziale Unterschiede vergessen oder gar verschwinden lassen sollte: soziale Gerechtigkeit in rohem Beton und mit anderen einfachen, »armen« Materialien wie Holz oder Kieselsteinen. Bo Bardi nutzte hierfür eine alte Fassfabrik um, errichtete – unverkennbar in der Tradition des »Béton brut« – mächtige Türme, die sie durch Stege miteinander verband, entwarf Teile der Inneneinrichtung selbst – angetrieben von ihrem Wunsch, High and Low, Kunst und Leben, Jung und Alt, Arm und Reich zu vereinen. „Die Gestalterin hat in Brasilien Gebäude geschaffen, die Öffentlichkeit zulassen, wo andere sie aussperren. Das macht sie zur Architektin der Stunde“, schrieb jüngst die Süddeutsche Zeitung.

Die Kraft von Lina Bo Bardis bemerkenswerten Arbeiten ist auch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung ungebrochen. Bislang fehlte eine grundlegende (architektur-)historische Aufarbeitung, nun jedoch werden – anlässlich ihres 100. Geburtstags – Leben und Werk dieser herausragenden, vielseitigen Architektin und Gestalterin in Publikationen und Ausstellungen wieder entdeckt.

veröffentlicht am 8.12.2014 – Monika Wolz