DIE NEUEN WILDEN

»Da war Punk und Sex und diese ganzen Geschichten. Da war Aufbruch. Etwas Neues.«Der Tagesspiegel 

»Wonach rochen die 80er-Jahre?«, fragte die Tageszeitung Die Welt in einem Artikel über die Neuen Wilden. Die Antwort, betrachtet man die Kunstszene der Zeit, würde mehrheitlich wohl lauten: nach Farbe. Die Malerei erlebte Anfang der 1980er-Jahre eine kurze, aber heftige Renaissance. Junge Künstler schlossen sich – in Berlin, im Rheinland, in Hamburg und Österreich – zusammen, um gegen die formale Askese von Minimal und Concept Art anzumalen, gegen die Positionen von Georg Baselitz, Anselm Kiefer, Sigmar Polke und Gerhard Richter aufzubegehren. »Der gute Onkel Richter in Düsseldorf schien uns weiter entfernt als der Mond«, brachte Jiří Georg Dokoupil, ein Vertreter der Kölner Wilden, ihren künstlerischen Aufbruch auf den Punkt. Ihre Bilder entsprangen den individuellen Erfahrungen der Protagonisten: »Den Mut zu haben, einfach sein persönliches Erleben mit einzubringen, war damals unglaublich verpönt«, offenbarte Helmut Middendorf. Die neue Subjektivität hatte eine große stilistische Vielfalt zur Folge, gemeinsam war den Neuen Wilden jedoch ein betont kraftvoller Pinselstrich, eine meist starke Farbgebung, ein oft unbekümmerter Bezug auf kunstgeschichtliche Vorbilder, kurz: eine unerschöpfliche, wilde Lust am gegenständlichen Malen.

»Ich habe Respekt vor dem schwarzen oder weißen Quadrat von Herrn Malewitsch, weil diese Bilder eben zu einer Zeit gemalt wurden, als sie etwas ausgelöst haben. Aber heute in unserer Zeit, wo alles nur noch aus Kisten, Quadern, Hochhäusern besteht, wo alles nur noch viereckig ist und wo es keine romantische Form mehr gibt, keine libidinöse Form, da langweilt mich diese Minimalkunst.« ⸺ Salomé

Die deutschen Wilden waren in lockeren Gruppen zusammengeschlossen. Eines der großen Zentren war Berlin mit den Hauptvertretern Rainer Fetting, Helmut Middendorf, Salomé und Bernd Zimmer, die 1977 die Selbsthilfegalerie am Moritzplatz gründeten. Formal verband die »Moritz Boys« eine spontan-expressive Bildsprache, sodass ihnen schnell das Etikett Neoexpressionisten anhaftete, thematisch ließen sie sich vom Geist der Stadt anregen, und so stand die Berliner Subkultur, Punkszene und New-Wave-Kultur im Mittelpunkt. Persönliche Obsessionen und sexuelle Neigungen wie bei Salomé oder auch das klassische Motiv der Landschaft bei Bernd Zimmer waren darüber hinaus von besonderer Bedeutung.

»Mir geht es in meinen Bildern um mich selbst.« Diese Äußerung von Peter Bömmels, einem Vertreter der Kölner Gruppe, könnte insbesondere als Überschrift über den Bildschöpfungen der rheinländischen Künstler stehen. Die Werke von Bömmels und seinen »Kollegen« Hans Peter Adamski, Walter Dahn, Jiří Georg Dokoupil, Gerard Kever und Gerhard Naschberger, die ein Gemeinschaftsatelier an der namensgebenden Straße »Mülheimer Freiheit« Nr. 110 angemietet hatten, zeigten im Vergleich zu den Berliner Wilden wenige stilistische und inhaltliche Übereinstimmungen: Die Person des Künstlers und das radikale Erleben der eigenen Wirklichkeit fanden in einem ausgeprägten Individualstil Eingang in die Werke.

Demgegenüber einte die Hamburger Künstler – Werner Büttner, Martin Kippenberger, Albert und Markus Oehlen – der Protest gegen die »wohlstandsbedingte Apathie der 1980er Jahre« (ZKM), den sie in ihren Ölbildern in oft dumpfer Tonalität formulierten.

Parallele Kunstströmungen international waren die Figuration Libre in Frankreich, die Transavantguardia oder später Arte Cifra in Italien, das New Image Painting in den USA.

Der Begriff Neue Wilde, erstmals von dem Kunsthistoriker und Museumsdirektor Wolfgang Becker verwendet, geht zurück auf die gleichnamige Ausstellung in der Neuen Galerie – Sammlung Ludwig in Aachen im Jahr 1980, die auf Ähnlichkeiten zwischen dem französischen Fauvismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der neoexpressiven zeitgenössischen Malerei hinwies: Les nouveaux Fauves – Die neuen Wilden. Die Wortprägung, die anders als die zunächst ebenfalls verwendete Bezeichnung Heftige Malerei die Wildheit der Künstler, nicht ihrer Kunst suggerierte, wurde kritisch aufgenommen, vor allem auch bei den Künstlern selbst, die auf ihre gänzlich subjektive Bildsprache und das fehlende übergeordnete Programm aufmerksam machten und zudem eine Gleichsetzung ihrer Arbeit mit einer Kunstströmung der Vergangenheit ablehnten. Doch trotz aller Skepsis etablierte sich die Bezeichnung.

Den »Hunger nach Bildern«, den der Kunsttheoretiker Wolfgang Max Faust in seinem Buch aus dem Jahr 1982 aufgespürt hatte, stillten Anfang der achtziger Jahre gleich mehrere Ausstellungen: Heftige Malerei lautete etwa der Titel einer Schau im Haus am Waldsee in Berlin, die 1980 die Berliner Wilden erstmals einem breiteren Publikum vorstellte. »Es war wie ein Traum, über Nacht hatten wir uns durchgesetzt. Und jetzt wollten wir ausprobieren, was das ist – kommerziell«, kommentierte Salomé den Erfolg. »Eben war ich noch Meisterschüler und ein Jahr später schon zeigte das Museum of Modern Art meine Bilder.« Die Ausstellung Rundschau Deutschland führte 1981 in München und Köln die Protagonisten der einzelnen Zentren zusammen. Die 1982 von Rudi Fuchs organisierte documenta 7, bei der die Neuen Wilden einen Schwerpunkt bildeten, hob die Künstler der Strömung endgültig aufs internationale Parkett. Im gleichen Jahr präsentierten auch Christos M. Joachimides und Norman Rosenthal im Berliner Martin-Gropius-Bau in der Zeitgeist betitelten Schau die »so rotzig und heftig und flink gemalten Bilder« (DIE ZEIT) der Künstlergeneration.

Binnen weniger Monate erlangten die Neuen Wilden so Starkult, Kunsthändler*innen kauften ihre Ateliers leer, die Werke fanden Eingang in namhafte Sammlungen, noch bevor sie richtig trocken waren. Aufgebrachte Kritikerstimmen verhallten jedoch nicht, damals wie heute polarisierte die Bewegung die Fachwelt. »Ist das Neue der Neuen Wilden wirklich so neu?«, argwöhnten die Kritiker*innen, die eher die Parallelen zu den französischen Fauves und den deutschen Expressionisten wahrnahmen als den unverwechselbaren Zeitgeist der großformatigen Gemälde. »Sehr viel schlechte Kunst«, urteilte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem documenta-Rückblick.

Nach wenigen ungestümen Jahren mit »Punk und Sex und diese[n] ganzen Geschichten« (Der Tagesspiegel) war die anarchische Kraft der Neuen Wilden verbraucht, die Strömung geriet in Vergessenheit, nur einzelne Vertreter blieben prägend. Die Malerei jedoch war wieder en vogue. Erst Jahre später ermöglichten Ausstellungen die Wiederbegegnung mit der Kunst der Neuen Wilden insgesamt, bis heute aber ist die Frage nach der Qualität der Werke jener malwütiger Jahre nicht abschließend beantwortet worden.

veröffentlicht am 23.1.2015 – Stefanie Gommel
Bild oben: Helmut Middendorf, Electric Night, 1979; Sammlung Deutsche Bank im Städel Museum, Städel Museum, Frankfurt am Main
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Veröffentlicht am: 30.01.2010